
Kreis Paderborn. David (Name geändert) kann sich noch an den Blick der Mutter erinnern. Sie wollte gerade ihre zweijährige Tochter abholen, als er mit ihr aus dem Wickelraum kam. "Sie hat richtig entsetzt geschaut, als ihr klar wurde: Oh mein Gott, dieser Mann hat meine Tochter gewickelt." Für David und jeden um ihn herum war das nie ein Problem gewesen. Die Mutter der Kleinen sah das offensichtlich anders.
David arbeitet seit 2014 als Erzieher, mittlerweile in einer anderen Kita im Kreis Paderborn. Und er ist ein Mann. Das muss man in diesem Zusammenhang betonen. Denn das war es, was der Mutter damals offensichtlich nicht passte. Zwei Tage nach der Begegnung teilte ihm seine damalige Kita-Leitung mit, die Mutter habe darum gebeten, dass er ihre Tochter nicht mehr wickelt. Dabei hatte er das nach eigener Aussage bereits wochenlang gemacht. "Sie hatte offenbar gar nicht bedacht, dass das passieren kann", sagt David.
Es gibt zwar immer mehr Männer in Kitas, aber sie sind weiterhin in der Unterzahl. Von den insgesamt mehr als 576.000 Kindererziehern in Deutschland waren zum Stichtag am 1. März 2016 knapp 31.600 männlich (Quelle: Statistisches Bundesamt). Das sind 5,48 Prozent, in NRW lag der Schnitt bei 4,18 Prozent. 2008 waren es erst 10.745 bei rund 362.000 Erziehern. Der Anteil wächst also langsam. David erzählt, dass sich bisher immer alle Beteiligten gefreut hätten, "dass auch mal ein Mann als Erzieher dazu kommt".
"Dann müssen wir das respektieren"
Nach dem Vorfall habe es ein Gespräch mit Eltern, Kita-Leitung, Gruppenleitung und David gegeben, erzählt der Erzieher. Die Einigung fasst er so zusammen: "Wenn die Mutter das so möchte, müssen wir das respektieren und wir machen es weitestgehend möglich." Wenn andere Kolleginnen anwesend waren, sollten sie das Kind wickeln. Es sei aber klar kommuniziert worden, sagt David, dass es Tage geben werde, an denen sich die Abmachung nicht aufrecht erhalten lässt. Die Eltern akzeptierten.
Er habe sich schon gefragt, was die Mutter ihm unterstellen wollte, sagt David. Er habe aber mit dem Kompromiss leben können, weil er trotzdem den Rückhalt seiner Kita-Leitung gespürt habe. Es habe sich für ihn auch nicht so angefühlt, als hätte man ihn als männlichen Erzieher diskriminiert. Auch andere Kita-Träger, mit denen wir für diesen Text gesprochen haben, begrüßen die Regelung.
Für andere Unschuldige sind solche Geschichten schlimmer ausgegangen. Selbst wenn sich ein Verdacht zerstreut, einmal ausgesprochen haftet er an einem - und kann, beruflich wie privat, eine Tortur sein.
Der Generalverdacht ist Männern bewusst - und schon in der Ausbildung Thema
"Das Problem ist, dass alle Männer grundsätzlich verdächtig und als Gefahr für Kinder angesehen werden", sagt Stephan Höyng, Professor für Jungen- und Männerarbeit an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin und Mitglied im Netzwerk "Männer in Kitas". Und die Kriminalstatistik stützt dieses Gefühl. "Der ganz überwiegende Teil bekannt gewordener Fälle wurde von Männern verübt", sagt Höyng. Zur Wahrheit gehöre aber auch, das der größte Teil der Übergriffe "im häuslichen Bereich" stattfinde und nicht in der Kita.
Thema ist das, was in der Praxis als "Generalverdacht" gegenüber Männern bezeichnet wird, schon in der Ausbildung. Das bestätigt Rudolf Hans, Leiter des Berufskollegs Bethel in Bielefeld. Es ist eine von vielen Schulen, in denen Erzieher ausgebildet werden - in verschiedenen Modellen. Im Berufspraktikum dürfen die Azubis wickeln, ebenso in der "praxisintegrierten Ausbildung" über drei Jahre.
Einzige Ausnahme: Während eines vier- bis achtwöchigen Blockpraktikums in Kitas sollen Erzieher in Ausbildung nicht wickeln. Das gelte für Männer wie für Frauen - und auch bei anderen Ausbildungsstätten. "Das hat etwas mit der Bindung zu den Kindern zu tun. Sie sollen die Wickelsituation möglichst mit denselben Erwachsenen erleben", sagt Hans. Er sagt auch: "Wir bereiten unsere auszubildenden Männer selbstverständlich darauf vor, das ihnen dieses Thema begegnen wird."
"Kitas müssen deutlich machen, dass sie auf die Kinder achten"
Wickelverbote, wie sie in Medienberichten immer mal wieder aus einzelnen Kitas kolportiert werden, gibt es bei mehreren großen Trägern in Ostwestfalen nach deren Aussage nicht. Stephan Höyng kann sich auch kein Szenario vorstellen, in dem das Sinn ergeben würde. "Kinder müssen mit Regelungen geschützt werden, die für alle gelten. Wickelverbote für männliche Erzieher wären nicht nur diskriminierend, es würde den Kindern vermitteln, dass Frauen für dieses und Männer für anderes zuständig sind und veraltete Rollenbilder verfestigen."
"Wir vermitteln natürlich auch Wege, wie man dem Verdacht entgegenwirken kann", sagt Ausbilder Rudolf Hans. Dazu gehört es, die Tür zum Wickelraum nicht ganz zuzuziehen. Stephan Höyng berichtet von einer Kita, die dem Wickelraum ein kleines Fenster zum Flur spendierte, um die Arbeit im wahrsten Sinne sichtbarer zu machen, ohne die Privatsphäre der Kinder zu sehr einzuschränken. "Kitas müssen Schutzkonzepte für Kinder entwickeln und Eltern auch deutlich machen, dass sie auf ihre Kinder achten", sagt Höyng.
Den wahren Grund, warum David das Mädchen nicht mehr wickeln sollte, kennt der Erzieher bis heute nicht. Im Gespräch mit den Eltern kam das nicht zur Sprache, sagt er. In der Kita von damals arbeitet er heute nicht mehr. Das habe aber nichts mit dem Vorfall zu tun.
INFORMATION
Das sagt die Kriminalstatistik
Dass Männern Misstrauen begegnet, wenn sie mit kleinen Kindern zu tun haben, ist in der Gesellschaft tief verwurzelt. Es gibt Fälle weiblicher Pädokriminalität, doch sie sind selten. Die Kriminalstatistik für NRW weist Fälle sexueller Übergriffe auf Kinder in Kitas nicht gesondert aus. Erfasst wird allerdings die Zahl der Opfer, die eine "formelle soziale Beziehung" zu den Tätern haben. Gemeint sind unter anderem Orte und Institutionen, an denen Kinder mit Erwachsenen zu tun haben. Dazu werden auch Kitas gezählt. 2017 gab es der Statistik zufolge in NRW 2.337 Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs. 74 Opfer standen in einer formellen sozialen Beziehung zum Täter. 71 von 73 Tatverdächtigen waren männlich.