Carsten Linnemann: „Wir können nicht jeden aufnehmen“

"Wir können nicht jeden aufnehmen", klare Worte findet Carsten Linnemann, Paderborner Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende der CDU/CSU-Mittelstandsvereinigung. Im Interview mit Thomas Seim, Carsten Heil und Matthias Bungeroth spricht er über Spannungen in der Union wegen der Flüchtlingsfrage, die Zukunft von Kanzlerin Angela Merkel und die Krise der Europäischen Union. Herr Linnemann, die AfD sorgt mit ihrer Position, der Staat solle im Notfall auf Flüchtlinge schießen, die die Grenze überschreiten, für Wirbel. Wenden sich nun vermehrt Menschen von der Partei ab?Carsten Linnemann: Das glaube ich schon. Vor allem werden jene, die in diesen Tagen mit der AfD liebäugeln, nochmals zum Nachdenken gebracht. Dazu gehören auch viele Frustrierte aus der Mitte der Gesellschaft, darunter Unionsanhänger. Ich hoffe, dass die Union die Chance nutzen kann, diese Menschen zurückzuholen. Dazu braucht es aber einen Dreiklang von &bdquo;nichts schwarzsehen", &bdquo;nichts schönreden" und &bdquo;nichts totschweigen". Warum sollen AfD-Sympathisanten gerade jetzt zur Union zurückkehren?Linnemann: Weil ich nach wie vor glaube, dass die Union die einzige Partei ist, die die Flüchtlingskrise meistern kann. Ich weiß, dass Meinungsverschiedenheiten in unserer Partei häufig als Zerwürfnis wahrgenommen werden. Aber so ist es nicht. Es geht um eine Auseinandersetzung in der Sache: Wollen wir warten, bis Europa die Außengrenzen sichert, oder wollen wir, bis es dazu kommt, nationale Maßnahmen an unseren Grenzen ergreifen? Um diesen Punkt wird gerungen, um zu einer Lösung zu kommen. Nur in der Union wird diese Debatte wirklich geführt. Aber viele Menschen wollen doch in der Flüchtlingsdebatte die Einführung einer Obergrenze.Linnemann: Die Menschen wissen, dass eine Obergrenze im engeren Sinne nicht funktionieren kann. Aber viele Leute verstehen eine Obergrenze, so wie ich, als Synonym für Kapazitätsgrenzen. Dass unsere Kommunen Kapazitätsgrenzen haben, ist Fakt. Integration kann nur funktionieren, wenn wir den Kommunen endlich den dafür nötigen Spielraum geben und sie nicht immer wieder mit neuen Zuweisungen von Flüchtlingen unter Druck setzen. Was ist das richtige Konzept?Linnemann: Ich unterstütze den Vorschlag von Frau Klöckner, die sagt, wir brauchen Grenzzentren, in denen geprüft wird, ob jemand eine Bleibeperspektive hat. Wer sie nicht hat, muss von dort wieder zurückgewiesen werden und darf erst gar nicht auf eine Kommune verteilt werden. Das wäre eine wichtige Entlastung für die Kommunen und ein wichtiges Signal dahingehend, dass wir nicht jeden aufnehmen können und werden. Solche Signale hat die Union bisher zu wenig gesetzt. In der Union gibt es aber viel Streit. Herr Seehofer will Kanzlerin Merkel vors Verfassungsgericht bringen.Linnemann: Das Problem bei diesem Streit ist, dass er bei vielen Menschen so ankommt, als ginge es nicht mehr um die Sache. Man muss aber bedenken, dass Bayern als Grenzland in ganz besonderer Weise betroffen ist. Bleibt Merkel Kanzlerin?Linnemann: Ja natürlich. Wie gesagt, es geht um einen Streit in der Sache. Haben Sie nicht den Eindruck, dass der Streit immer emotionaler wird und es die Gefahr einer Spaltung der Union gibt?Linnemann: Die Seelenlage der Partei war noch nie so unbestimmbar wie im Moment. Das gilt aber nicht nur für die Union, sondern für die gesamte Gesellschaft. Es geht um existenzielle Fragen, darunter zum Erhalt unserer staatlichen Ordnung und unseres Sozialstaats. Seit der Silvesternacht von Köln melden sich so viele Bürger wie nie zuvor bei mir und sprechen über ihre persönlichen Ängste. Können Sie verstehen, dass es Irritationen über die Haltung Europas in dieser Frage gibt?Linnemann: Manche sagen, Europa steht vor der Zerreißprobe. Ich sage, es steht mittendrin, weil die selbst gesetzten Regeln zunehmend nicht mehr eingehalten werden. Wir haben das in der Eurokrise erlebt und jetzt wieder. Wichtig ist jetzt, dass wir in der Flüchtlingspolitik auf einen Nenner kommen und die Briten an Bord bleiben. Bisher hatten wir gleiche Rechte für alle EU-Bürger. Das könnte sich ändern, wenn die Briten sich durchsetzen.Linnemann: Niemand will Sonderwege haben. Viele Vorschläge von Cameron dienen der Rückbesinnung auf die europäische Idee für alle. Ein Beispiel: Ein EU-Ausländer, der drei Jahre lang Sozialleistungen beziehen will, statt selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, ist nicht auf &bdquo;Arbeitssuche", sondern will offenkundig die Unterschiede in den europäischen Sozialsystemen ausnutzen. Eine Sperrfrist von vier Jahren, die im Gespräch ist, finde ich daher in Ordnung. Findet Wirtschaftspolitik bei der Dominanz der Flüchtlingsfragen überhaupt noch statt?Linnemann: Ich sehe durchaus das Risiko, das wir uns nur noch mit Flüchtlingsfragen beschäftigen. Dabei wird leicht vergessen, dass eine starke Wirtschaft unabdingbar ist, um die Herausforderungen überhaupt finanzieren zu können.

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