Heinrichsflut vor 60 Jahren im Kreis Paderborn: Zeitzeuge erinnert sich an Tragödie

Borchen-Etteln. Friedhelm Rustemeier bekommt immer noch eine Gänsehaut, wenn er über die Ereignisse am 16. Juli 1965 redet. Vor 60 Jahren kam es nach tagelangen, teils extremen Regenfällen zur größten Naturkatastrophe im Kreis Paderborn, der sogenannten Heinrichsflut. Besonders hart getroffen vom Hochwasser wurde das Dorf Etteln – sechs Menschen starben dort, darunter vier kleine Kinder und deren Oma aus der Familie Thiele. Die Mutter der Kinder, Ursula Thiele, konnte bei einem lebensgefährlichen und stundenlangen Einsatz noch gerettet werden. Der heute 74-jährige Friedhelm Rustemeier ist der einzige noch lebende Zeitzeuge, der diese Tragödie miterlebte. Wenn der Ettelner im Detail beschreibt, was damals passierte, ist er auch 60 Jahre danach noch angefasst. &bdquo;Die Frau saß am Fensterkreuz mit ihrem jüngsten Kind auf dem Arm und schrie immer wieder: Warum hilft mir denn keiner? Und zwar stundenlang“, erinnert sich Rustemeier noch sehr gut. Das Bauernhaus lag direkt in der Nachbarschaft von seinem Elternhaus, der Gaststätte Rustemeier. Autos, Bäume und Tiere schwammen im Wasser &bdquo;Alle in Etteln waren damit beschäftigt, sich auf ihren Höfen oder in ihren Häusern in Sicherheit zu bringen, oder versuchten, das Vieh aus den Ställen zu retten. Von der Not der Frau bekamen nicht viele etwas mit. Meine Eltern schon. Mein Vater sah noch die Oma der Kinder in den Fluten verschwinden.“ Da sein Vater früher bei der Marine und auch ein recht guter Schwimmer war, wollte er dann rüber zum Nachbarhof und helfen. &bdquo;Das war aber nicht mehr möglich, der Strom war so stark geworden – da schwammen Autos, Balken, Bäume, Rinder und Schweine im Wasser. Das waren Bilder, die vergisst man nicht. Wie vor ein paar Jahren im Ahrtal“, so Rustemeier. Um 16 Uhr wurde der Schuppen der Nachbarn weggespült Der damals 14-jährige Schüler war sich, als er mittags von der Schule nach Hause kam, der Gefahr noch gar nicht bewusst. Der Schulbus fuhr schon nicht mehr ins Tal und auf der Hauptstraße floss schon Wasser. &bdquo;Aber Hochwasser hatten wir öfters in Etteln. Mein Freund und ich zogen uns Gummistiefel an und zogen los. Meine Eltern waren schon etwas nervös, aber als Junge macht man sich da keinen Kopp. Aber als gegen 16 Uhr der ganze Schuppen der Nachbarn uns entgegenkam, da wussten wir: Das ist eine ganz andere Nummer. Es wird gefährlich.“ Auch interessant: Gedenken an Heinrichsflut in Etteln Eine Mauer beim Meierhof hatte lange die Flut der Altenau zurückgehalten, als sie dann brach, strömte das Wasser durch das Dorf – mit immenser Wucht. Schnell seien viele Häuser, die etwas tiefer lagen, überschwemmt gewesen. Darunter auch das Nachbarhaus der Rustemeiers. Die Oma und drei Kinder (7, 5 und 3 Jahre alt) wurden von den Fluten mitgerissen. &bdquo;Sie hatten keinen direkten Zugang vom Haus in die Scheune, wo sie wohl sicher gewesen wären“, erklärt Rustemeier. Die Mutter blieb mit ihrem einjährigen Sohn zurück. Rustemeier beobachtete, wie eine belgische Militäreinheit versuchte, die beiden mit einem Schlauchboot zu retten. &bdquo;Das Boot kippte aber immer wieder um. Die Strömung war einfach zu stark.“ Es sollen 215 Kubikmeter Wasser pro Sekunde gewesen sein. Auf der Schanze, ein höher gelegener Hügel, war gegen Abend dann ein Hubschrauber angekommen. Der Pilot hatte laut Rustemeier, der mittlerweile mit seinem Freund auch auf der Schanze war, aber arge Bedenken. &bdquo;Oberlandleitungen lagen direkt über dem Haus, er hatte auch keine Vorrichtung. Der Schwager der Frau kniete dann vor dem Piloten und bat ihm, doch zu helfen. Es gab heftige Diskussionen, der Pilot hatte nur zwei Wehrpflichtige ohne Erfahrung dabei.“ Rettungsaktion mit Hubschrauber endet tragisch Aber dann sei ein dickes Seil besorgt worden und der Hubschrauber sei zur Rettungsaktion gestartet. Doch die endete tragisch. Zwar habe sich die Frau mit dem Kind im Arm das Seil um den Körper legen können, doch über dem Meierhof habe es einen starken Ruck am Seil gegeben, wie Rustemeier berichtet. Das Kind fiel ins Wasser und verschwand in den Fluten, die Frau sprang ihrem Sohn hinterher und landete schwer verletzt in einem Baum. Eine erneute Rettungsaktion musste beginnen. Mehrmals scheiterten die Versuche, mit einem Schlauchboot die Frau zu erreichen. &bdquo;Ein Feuerwehrmann sagte dann entschlossen: Ich unterschreibe alles, ich hole sie heraus. Mit einem Seil von einem Feuerwehrkameraden gesichert, wurde er mit dem Hubschrauber über sie geflogen und holte sie eng umschlungen aus dem Baum“, so der 74-jährige Gastronom. Ursula Thiele wurde ins Haarener Krankenhaus gebracht und überlebte. Ihre Retter, die Feuerwehrmänner Ludwig Sutschet und Hans-Georg Rode sowie der Pilot, Oberleutnant Konrad Roesen, bekamen später für ihre Hilfe die Rettungsmedaille vom NRW-Ministerpräsidenten. Ebenso Franz-Josef Bömer, der Verwalter des Meierhofes. &bdquo;Er war sehr mutig und hat auch einige in Etteln gerettet“, weiß Rustemeier. Lesen Sie auch: Nach der Heinrichsflut kam der einheitliche Hochwasserschutz Eltern in Etteln verlieren vier Kinder Das größte Leid hatte aber die Familie Thiele zu ertragen. Ursula Thieles Mann Meinolf arbeitete bei einer Baufirma in Altenbeken und sei erst abends nach Etteln gekommen. &bdquo;Der brach zusammen und rief immer wieder: Warum meine Kinder? Psychologische Hilfe gab es damals keine“, erinnert sich Rustemeier an die &bdquo;schlimmsten Stunden“. Das sechste Todesopfer in Etteln war ein 39-jähriger Knecht, der beim Versuch, Schweine zu retten, ertrank. Das Aufräumen im Altenaudorf habe Monate gedauert, viele Häuser und Straßen sowie die alte Brücke waren zerstört worden. Später war Friedhelm Rustemeier auch 20 Jahre lang Ortsvorsteher in Etteln und setzte sich für die Renaturierung der Altenau ein. Damals habe es dafür, trotz der Katastrophe, auch viel Gegenwind gegeben. Heute schützen die Renaturierungsmaßnahmen vor solch einer Naturkatastrophe wie am 16. Juli 1965.

Meistgelesen