Frankfurt/Kreis Herford. Im Innenhof des weitläufigen Messegeländes sitzen zwei junge Frauen auf einer Bank. Zwischen gläsernen Hallen, Stimmengewirr und dem niemals endenden Geräusch rollender Koffer treffen sie sich heute zum ersten Mal.
Eine der beiden lehnt sich elegant in ihren waldgrünen Hosenanzug nach vorn und lächelt warm: „Wir hatten schon so viele Mails und Videocalls, aber live ist es wirklich anders, oder Merle?“ Die blauen Augen ihrer Gesprächspartnerin leuchten auf: „Ich war so aufgeregt, schließlich trifft man die eigene Literaturagentin nicht jeden Tag zum ersten Mal“, antwortet sie, während sie die silbernen Ringe an ihren Händen rastlos hin- und her dreht.
Dass Merle Stork heute im Innenhof der Frankfurter Buchmesse sitzt, um Agentin Alissa Fenner aus Berlin kennenzulernen, ist weder Zufall noch Alltag, sondern durch viel Zeit, Tastaturanschläge und Kreativität erarbeitet. Normalerweise ist die 24-Jährige allein, wenn sie, an ihr unsichtbares Publikum gewandt, über Literatur spricht. Umgeben von den Feldern und Wiesen im Kreis Minden-Lübbecke hat sich Merle mit ihren Instagram-Blogs „@merles.mind“ und „@mitwortenmalen“ eine stetig wachsende Bühne geschaffen – ohne Großstadt und ohne Verlag, dafür aber mit mehr als 42.000 Followerinnen und Followern im Rücken. Was als Instagram-Account begann, ist inzwischen zu in einem Buch-Deal geworden.
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Literatur aus Preußisch Oldendorf geht bei Social Media viral
„Bookstagram“ (Instagram) und „BookTok“ (TikTok) haben sich seit der Corona-Pandemie zu einem weltweiten Treffpunkt für Buchenthusiastinnen und -enthusiasten entwickelt. Hier teilen die „Bookies“, wie sie sich selbst nennen, Leseerfahrungen, diskutieren Bücher, Charaktere und Genres.
„Ich komme aus Preußisch Oldendorf und ehrlicherweise gibt es hier nicht viele Leute, mit denen ich mich über Bücher unterhalten könnte“, erinnert sich Merle. „Deshalb habe ich 2020 angefangen, online darüber zu sprechen – einfach, weil ich jemanden gesucht habe, der diese Leidenschaft teilt.“ Schreiben habe für Stork immer schon zum Alltag gehört: „Ich habe bereits mit 16 versucht, meinen ersten Roman zu schreiben. Der war aber furchtbar.“
Während des Studiums begann Merle täglich Gedichte zu schreiben: „Ich hatte das Bedürfnis, Gedanken in Sprache zu verwandeln. Irgendwann hatte ich aber diese riesige Sammlung und dachte, wie schade es ist, wenn die niemand liest.“ Über eine Selfpublishing-Plattform brachte sie in kompletter Eigenregie zwei Poesie-Bände heraus – und erreichte schnell Tausende Lesende.
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Buchcommunity aus OWL vernetzt sich
Zurück in der stickigen Halle schiebt sich Merle zwischen deckenhohen Bücherwänden durch die Massen. An fast jedem Stand stehen größtenteils junge Frauen an, um Fotos zu machen. Wie viele Buchbloggerinnen und -blogger es auf Instagram und Co. aus OWL gibt, ist schwer nachzuvollziehen. Die Szene sei klein, so Stork, aber nicht unsichtbar: „Meistens muss ich nach Bielefeld oder Münster fahren, um andere Bookies zu treffen.“
Denn während viele junge Medienschaffende OWL hinter sich lassen, um in Großstädte zu ziehen, bloggt, und schreibt Merle aus ihrem Elternhaus heraus: „Kreativität ist nicht an Stadtgrenzen gebunden, ich hab’s einfach aus dem Dorf heraus gemacht“, erzählt die 24-Jährige und lacht.
Merle sehe genau darin jedoch eine Chance. Die junge Frau mit dem wachen Blick möchte anderen vermitteln, dass nicht der Ort, sondern die Stimme zähle: „Gerade, weil in OWL noch nicht viel passiert, können wir etwas aufbauen. Ich bin überzeugt davon, dass digitale Räume auch im realen Leben Wandel schaffen können.“
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Follower treffen ihr Online-Vorbild aus dem Lübbecker Land
Merle selbst beschreibt ihre Community als offen, sehr kreativ und weiblich: „Die Bookie-Szene ist super divers – viele Frauen, queere Menschen oder Personen mit Migrationsgeschichte. Wir tauschen uns über Themen aus, die früher im Literaturbetrieb wenig Platz hatten. Das verändert die Literaturwelt“, so die Autorin. Nur weil etwas online beginne, heiße das nicht, dass es weniger echt sei.
Dass ihre digitalen Aktivitäten mittlerweile längst über den Bildschirm hinausgewachsen sind, spürt Stork besonders auf Veranstaltungen wie der Frankfurter Buchmesse. An diesem Wochenende wechselt die junge Frau ständig die Rolle: Von Bloggerin zu Leserin zu Autorin – sie besucht Verlage, trifft ihre Agentin, plaudert.
Immer wieder wird sie angesprochen: „Hi Merle!“, grüßen sie zwei Frauen, als würden beide Stork ewig kennen. Ganz unwahr ist das nicht: „Ich folge dir schon so lange bei Instagram. Du schreibst jetzt dein eigenes Buch, richtig?“, fragt eine der beiden. Merle nickt, lächelt – und muss ihnen versprechen, sie auf dem Laufenden zu halten.
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Bookstagram-Star aus Preußisch Oldendorf ringt mit Sichtbarkeit
„Bisher waren für mich meine Online-Person und mein echtes Leben getrennte Welten. Jetzt verschwimmt das“, erklärt Merle nachdenklich, als sie anschließend Richtung Ausgang geht. Der Messetag ist zwar vorbei, vor ihr liegen jedoch noch weitere Verlagspartys am Abend. Situationen wie diese seien für sie schön, aber auch überfordernd: „Ich bin eigentlich nicht der Typ, der gerne im Mittelpunkt steht.“
All das sei vor allem surreal: „Letztes Jahr war ich nur als Leserin hier, jetzt spreche ich mit Menschen über mein eigenes Buch. Ich frage mich immer wieder, ob ich all dem wirklich gewachsen bin“, fügt sie so leise hinzu, dass der niemals endende Geräuschpegel es fast verschluckt.
Doch hier, zwischen Rollkoffern und Reclam-Gelb beginnt für Merle Stork etwas Neues. Sie bleibt kurz stehen, dort, an der Bank, den Blick auf die Hallen gerichtet, als wolle sie sich vergewissern, dass all das wirklich passiert – nicht im Netz, sondern im echten Leben.
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Mehr zur Frankfurter Buchmesse 2025
Die Frankfurter Buchmesse ist die weltweit größte Fachmesse für das internationale Literatur- und Verlagswesen und ein branchenübergreifender Treffpunkt für Akteurinnen und Akteure aus den Bereichen Medien, Bildung, Wissenschaft, Politik, Filmwirtschaft, Gamesund Fachinformation. Die 77. Frankfurter Buchmesse fand in diesem Jahr von Mittwoch, 15., bis Sonntag, 19. Oktober, statt.
Laut den Messe-Organisatoren verzeichnete die Veranstaltung, die nun in diesem Jahr mehr als 238.000 Besucherinnen und Besucher aus aller Welt. Dies stelle darüber hinaus auch einen Anstieg im Vergleich zu den Vorjahren dar: Bis Sonntag, 19. Oktober, zählte die Buchmesse 230.000 Besuchende, im Vorjahr waren es zu diesem Zeitpunkt 215.000.