Kochsalzlösung fehlt: Lieferengpässe bei Medikamenten belasten Mühlenkreiskliniken

Minden. Seit Anfang 2020 ist Dr. Florian Immekus Direktor der Zentralapotheke der Mühlenkreiskliniken (MKK). Die Arzneimittelversorgung und der Umgang mit Lieferengpässen liegen dem gebürtigen Sauerländer sehr am Herzen. Der 41-Jährige spricht im MT-Interview einige Probleme offen an, er äußert Kritik an den Strukturen und gibt Einblicke, wie die MKK es trotzdem immer wieder schaffen, erforderliche Medikamente auf dem umkämpften Markt zu bekommen. Zum Beispiel Kochsalzlösungen. Immer wieder liest man von Lieferschwierigkeiten bei Medikamenten und Problemen bei der Patientenversorgung. Wie bewerten Sie die Lage? Die Situation ist prekär und problematisch. In einigen Bereichen würde ich sie sogar als hochkritisch einschätzen, zum Beispiel mit Blick auf die aktuellen Engpässe bei Kochsalzlösungen. Das bringt Kliniken an den Rand der Betriebsfähigkeit. Ohne Kochsalzlösung ist ein Krankenhausbetrieb kaum darstellbar, da sie als Trägerlösung für die meisten Arzneimittel benötigt wird, die über die Vene gegeben werden. Diese brauchen wir zum Beispiel bei Operationen, auf der Intensivstation oder auch in der Chemotherapie. Engpässe bei der Arzneimittellieferung gibt es seit Jahren, die Situation verschärft sich aber zunehmend. Insgesamt halte ich aber nichts davon, in Panik zu verfallen. Wir müssen mit der angespannten Situation bestmöglich umgehen. Wie gehen die MKK mit dieser Problematik um? Bei uns ist mittlerweile eine Apothekerin in Vollzeit den ganzen Tag damit beschäftigt, Lieferengpässe zu ermitteln, zu bewerten und mit den Ärzten abzustimmen, wie wir vorgehen und welche Alternativen wir haben. Es gab 2023 eine europaweite Umfrage zur Arzneimittellieferung, an der 1.500 Krankenhausapotheker teilgenommen haben, darunter 206 aus Deutschland. Die Ergebnisse haben mich nicht überrascht: Fast alle gaben an, dass Engpässe ein Problem in ihrem Krankenhaus sind – in Deutschland lag die Quote sogar bei 100 Prozent. Können Sie aktuelle Zahlen für die MKK nennen? Nehmen wir den Stichtag 4. September 2024. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir in der Zentralapotheke 1.700 Arzneimittel im Sortiment, die wir standardmäßig in unseren Kliniken einsetzen. Davon waren 1.493 lieferbar, was einer Quote von 88 Prozent entspricht. Die nicht verfügbaren 207 Medikamente haben wir in drei Risikogruppen eingeteilt. In vielen Fällen können wir Lieferprobleme zum Beispiel über ausreichende Lagerbestände lösen, oder wir verwenden Alternativpräparate beziehungsweise greifen auf andere Lieferanten zurück. Im schlimmsten Fall gibt es aber keine gleichwertige therapeutische Alternative. Das stimmt – und das ist hochkritisch. An diesem Stichtag war das bei 37 Medikamenten der Fall, was einem Anteil von zwei Prozent entspricht. Das hört sich vielleicht wenig an, ist aber dramatisch, denn mitunter handelt es sich um lebensnotwendige Medikamente. In diese Kategorie fallen zum Beispiel auch die Kochsalzlösungen, von denen wir am Tag im Schnitt 1.800 Einheiten unterschiedlicher Größe brauchen. Wo sehen Sie die Ursachen der Lieferprobleme? Eine wichtige Rolle spielt die Arzneimittelproduktion an sich. Wir haben einen wachsenden globalen Bedarf an Medikamenten, zum Beispiel in den Schwellenländern. Dieser Gesamtbedarf übersteigt teilweise die Produktionskapazitäten – es kommt zu einer Verknappung. Außerdem konzentriert sich der Markt auf wenige Rohstofflieferanten. Die Produktion erfolgt überwiegend in China, die Lieferketten sind sehr verschachtelt, es herrscht wenig Transparenz. Mehr zum Thema: Kliniken in Sorge: In NRW wird jetzt auch Kochsalzlösung knapp Außerdem gab es über Jahre einen Preiskampf der Hersteller, was jetzt ebenfalls zum Problem wird. Das Infusionsgeschäft hat keine Deckungsbeiträge mehr – es baut niemand mehr ein neues Werk, weil es sich nicht rechnet. Und die vorhandenen sind komplett ausgelastet. Das Preisniveau ist insgesamt so niedrig geworden, dass die Hersteller kein Interesse mehr an Expansion haben. Solange wir bereit sind, für einen Liter Cola zwei Euro auszugeben, für eine lebenswichtige Kochsalzinfusion aber nur 40 Cent, wird kein Arzneimittelhersteller für mehrere Hundert Millionen Euro eine neue Produktionsstätte aufbauen. Am Ende lassen viele Lieferanten den deutschen Markt unterversorgt zurück. Hinzu kommt, dass es keinen echten europäischen Binnenmarkt für Arzneimittel gibt, die Einfuhr ist unfassbar stark gesetzlich reguliert. Man kann bei einem Engpass nicht einfach zehn Paletten eines Medikaments aus dem Ausland ordern. Gibt es große Preisunterschiede? Wie gehen Sie beim Einkauf von Arzneimitteln vor? Ja, die Preise variieren stark, zum Beispiel zwischen Europa und den USA. Die Zentralapotheke der MKK hat sich einer deutschlandweiten Einkaufsgemeinschaft mit etwa 70 Klinikapotheken zusammengeschlossen. Diese verhandelt in der Regel alle zwei Jahre neue Preise. Das sind harte Gespräche mit den Lieferanten. Die Pharmaindustrie überlegt schon sehr genau, welche Märkte auf der Weltkarte zu welchen Konditionen mit Ware bedient werden. Was muss sich aus Ihrer Sicht in Zukunft ändern? Wir müssen das starre Korsett für die Beschaffung und Lagerung von Medikamenten lockern. Ein Beispiel: Die sogenannte Apothekenbetriebsordnung stammt aus den 80er-Jahren und ist völlig aus der Zeit gefallen. Sie schreibt zum Beispiel vor, dass es nicht erlaubt ist, zentrale Lager außerhalb der Apothekenräume auf der grünen Wiese zu errichten. Wer sich nicht daran hält, macht sich strafbar. Lesen Sie auch: Lübbecker Land: Auch Kochsalzlösung von Lieferengpässen betroffen Im 2023 verabschiedeten Gesetz zur Bekämpfung von Lieferengpässen steht als diesbezüglich einzige kreative Maßnahme, dass laut Apothekenbetriebsordnung eine Lagerung nun für vier statt nur zwei Wochen vorgeschrieben ist. Dafür haben die Klinikapotheken aber häufig gar nicht genügend Lagerfläche, insbesondere wenn Apotheken älterer Krankenhäuser wie so häufig im Kellergeschoss untergebracht sind. Der Gesetzgeber muss zentrale Pufferlager für Krankenhausapotheken ermöglichen. Damit könnte man eine derart prekäre Situation wie jetzt bei den Kochsalzlösungen entschärfen. Wie meinen Sie das konkret? Die Lieferschwierigkeiten deuteten sich an, die Lagerbestände schrumpften, doch es war den Klinikapotheken nicht erlaubt, in großem Maßstab Alternativen aus anderen Ländern von anderen Herstellern zu importieren, um die Versorgung zu sichern. Dafür braucht es nämlich die Erlaubnis über einen Erlass des Ministeriums. Am 25. September war der Engpass dann in vollem Ausmaß klar – zwei Wochen später wären wir komplett leergelaufen. Erst am 10. Oktober aktivierte das Ministerium eine sogenannte Krisenregelung, wonach Kochsalz-Importe möglich seien. Zu dem Zeitpunkt hätten wir keinen einzigen Beutel mehr gehabt. Wie konnten Sie die Versorgung trotzdem sicherstellen? Wir hatten Kontakt zu einem Lieferanten aus der Türkei, den wir bereits kannten, da er uns in der Vergangenheit schon einmal bei ähnlichen Arzneimitteln ausgeholfen hatte. Als unsere Lagerkapazitäten nur noch für vier Tage ausreichten, mussten wir handeln und haben elf Paletten mit rund 40.000 Kochsalz-Beuteln geordert. Die kosten zwar das Vierfache und die Beschriftung ist komplett auf Türkisch, aber die Qualität ist gleichwertig und es rettet uns in dieser prekären Lage. Wir konnten nicht länger auf die Politik warten. Unser Vorrat reicht nun bis Ende November – wir hoffen, dass wir dann wieder ausreichend beliefert werden. Drohen solche Engpässe Jahr für Jahr bei verschiedenen Medikamenten? Ja, so ist es. Und es ist willkürlich, welches Medikament als Nächstes betroffen sein wird. Das können Blutpräparate, Fiebersäfte oder sogar Ibuprofen-Tabletten sein. Wie blicken Sie in die Zukunft? Ich bin eigentlich ein optimistischer Mensch, aber mittlerweile bin ich sehr skeptisch, dass sich kurzfristig etwas zum Positiven verändern wird. Wir müssen die Regulierung lockern und damit krisenfester machen, da ist die Politik dringend gefordert. Die Arzneimittelversorgung muss insgesamt mehr in den Fokus rücken, sie gehört für mich auf die gleiche Ebene wie zum Beispiel die Energieversorgung. Macht Ihnen der Job überhaupt noch Spaß? Schließlich haben Sie es oft nur mit Problemen zu tun. Auch wenn die Arbeit von einer dauerhaften Unruhe geprägt ist, macht sie mir sehr viel Spaß. Wir haben innerhalb der Zentralapotheke und auch darüber hinaus bei den Mühlenkreiskliniken einen tollen Spirit und arbeiten mit den Ärzten gut zusammen. Wir versuchen jeden Tag aufs Neue, die Probleme zum Wohle der Patientinnen und Patienten zu lösen. Das motiviert mich.

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