„Ich sehe die Zukunft eher skeptisch“: Medikamentenversorgung im Kreis Paderborn

Kreis Paderborn. Es ist Samstagabend. Mitten in der Nacht wird das eigene Kind mit Fieber wach. Damit es gesund wird, braucht es einen Arzt oder Medikamente. Die Temperatur steigt, das Kind schreit. Auf dem Handy suchen die Eltern den nächsten Apothekennotfalldienst. Doch der ist weiter weg als gedacht. 30 Kilometer Fahrt. Das nächste Krankenhaus mit Notaufnahme ebenfalls. Noch entspricht dieses Szenario im Kreis Paderborn nicht der Realität. Dies könnte aber bald der Fall sein. Denn bereits jetzt sind laut dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) viele Arzneimittel von Lieferengpässen betroffen. Und es könnte schlimmer werden. Zwei Experten berichten, wie kritisch die Lage im Kreis Paderborn ist. An welchen Medikamenten fehlt es im Kreis Paderborn? Fast 500 Arzneimittel seien derzeit laut BfArM von Lieferengpässen betroffen. Die Paderborner Bezirksgruppenvorsitzende des Apothekerverbands Westfalen-Lippe, Katja Kesselmeier, sagt, es gebe zudem eine hohe Dunkelziffer, weil Pharmaunternehmen nicht verpflichtet seien, Lieferengpässe zu melden. Die in Paderborn tätige Apothekerin betont: &bdquo;Ich gehe davon aus, dass es auch 700 bis 900 sein könnten“, sagt Kesselmeier. Hinsichtlich der Lieferengpässe liegen beim BfArM unter anderem Antibiotika und Fiebersäfte für Kinder im Fokus. &bdquo;Kochsalzlösungen sind derzeit schwierig zu bekommen. Auch Medikamente für das Herzkreislaufsystem und Atemwegsarzneimittel gibt es zu wenige“, ergänzt Kesselmeier. Die Engpässe bestätigt auch Ulrich Polenz, Allgemeinmediziner und Leiter der Paderborner Bezirksstelle der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe. Er beobachtet, dass es vor allem für Diabetiker aktuell zu Problemen komme, weil deren Medikamente häufig als Abnehmspritzen verwendet werden würden. Aber: Der Medikamentenmangel könne nicht auf eine konkrete Medikamentengruppe zurückgeführt werden: &bdquo;Jede Wirkstoffgruppe kann betroffen sein“, sagt Katja Kesselmeier. Warum es zu Verzögerungen bei der Versorgung kommt Die ohnehin langen Wartezeiten auf Medikamente würden durch bürokratische Vorgänge zusätzlich verlängert. &bdquo;Bei jedem nicht lieferbaren Medikament ist ein Rückruf notwendig“, sagt Polenz. Bei 80 Patientinnen und Patienten am Tag hätte Polenz durchschnittlich sieben bis acht Rückrufe, die er bearbeiten müsse. Im Anschluss müsste er sich mit Patienten und Apothekern nochmals absprechen. Hinzu kommt: &bdquo;Die Patienten verunsichert es, wenn sie ihr bekanntes Medikament nicht mehr erhalten und ein neues verschrieben bekommen“, sagt Polenz. Was bei dem Medikamenteneinkauf beachtet werden sollte Kesselmeier als auch Polenz empfehlen: Frühzeitig Medikamente bestellen. &bdquo;Man sollte nicht die letzte Tablette aufbrauchen und dann erst zur Apotheke gehen“, sagt Kesselmeier. Das bedeute im Umkehrschluss jedoch nicht, dass Medikamente gehortet werden sollten. Das wäre mit Blick auf das Ablaufdatum nicht sinnvoll. Eine Bestellung ein bis zwei Wochen im Voraus reiche aus. Polenz empfiehlt zudem, bei mehreren Apotheken anzufragen. Lesen Sie auch: Neues Facharztzentrum mit zehn Praxen, Apotheke und Café entsteht in Paderborn Es sei zudem von Vorteil, sich vor Ort in einer Apotheke beraten zu lassen. Die Apotheker können in Absprache mit den jeweiligen Ärzten einen anderes, passendes Mittel finden oder sogar selbst eines herstellen. &bdquo;Wir geben alles, um unsere Patienten zu versorgen“, sagt Kesselmeier. Ein Onlineversanddienst könnte das nicht gewährleisten – auch keinen Notfalldienst. Die Onlineanbieter hätten zwar je nach Unternehmensgröße manchmal größere Medikamentenbestände, hängen letztendlich aber an denselben Produzenten, wie die Apotheken. Auch von Tauschbörsen rät Kesselmeier ab und sagt: &bdquo;Man kauft ja keine Packung Mehl.“ Ob das jeweilige erhaltene Medikament richtig aufbewahrt, angebrochen oder abgelaufen sei, könne im Nachhinein nicht gesagt werden. Ist die Medikamentenversorgung im Kreis Paderborn aktuell gesichert? &bdquo;Patienten müssen hier keine Angst haben“, sagt Ulrich Polenz. Es gebe aktuell vonseiten der Ärzte einen erheblichen, bürokratischen Aufwand, aber keine akute Gefährdung unversorgt zu bleiben. Auch Kesselmeier wolle sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, sagt aber: &bdquo;Ich kann zusichern, dass wir ein benötigtes Medikament oder ein Äquivalent besorgen.“ Wenn etwas nicht verfügbar sei, gebe es immer eine Alternative. Lesen Sie auch: Schwerwiegende Lieferengpässe: Diese Medikamente sind im Kreis Höxter betroffen Nur selten sei etwas gar nicht zu bekommen. So war vor einige Zeit das Medikament &bdquo;Tavor“, das in der Palliativmedizin eingesetzt wird, kaum verfügbar. Aber Kesselmeier betont, dass auch in solchen Fällen geholfen werden könne: &bdquo;Wir sind ja ein breites Versorgungsnetzwerk.“ Es dauere manchmal nur etwas länger. So steht es um die Zukunft der Medikamentenversorgung im Kreis Paderborn Ein großes Problem sei vor allem, dass viele Medikamente nicht mehr in Deutschland oder in der Europäischen Union, sondern im Nicht-EU-Ausland produziert werden würden. &bdquo;Ich sehe die Zukunft daher eher skeptisch“, sagt Polenz. Diese Entwicklung gebe es schon länger, aber geändert habe sich wenig. &bdquo;Aufgrund welcher Veränderung sollte es jetzt besser gehen?“, fragt Polenz. &bdquo;Diese Probleme haben sich über Jahre entwickelt und sind jetzt massiv“, sagt Kesselmeier. Die Medikamentenproduktion in Europa müsse sich wieder lohnen. Aktuell rentiere sich das für viele Hersteller nämlich nicht. Politisch müsse sich deshalb drastisch was ändern. &bdquo;Arzneimittel müssen wieder ihre ursprüngliche Bedeutung erhalten. Sie sind genauso wichtig wie Lebensmittel“, sagt Kesselmeier. Wenn sich nichts ändern sollte, befürchtet sie, dass insbesondere ländlichere Regionen bei der Medikamentenversorgung abgehängt werden könnten. In Zukunft könnte dann nicht jedes Medikament schnell und in der Nähe verfügbar sein.

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