Dreijähriger Felix aus Minden gibt nicht auf - und macht auf Plakat anderen Mut

Minden. Länger als ein Jahr dauert es, bis Felix das erste Mal nach Hause darf. Seit seiner Geburt hat er in Krankenhäusern gelebt, einem Pflegeheim, hat zig Operationen hinter sich gebracht. Eine gesundheitliche Hiobsbotschaft ist der anderen gefolgt: Denn Felix hat das Vacterl-Syndrom, so nennt man eine Ansammlung von angeborenen Fehlbildungen. &bdquo;Es war nicht sicher, ob er es schafft“, sagt seine Mutter Franziska Bolte mit Blick auf ihren mittlerweile dreijährigen Sohn, der nun im Wohnzimmer spielt, mit einer Kanüle im Hals, einer Pflegekraft an der Seite - und einem schelmischen Lächeln im Gesicht. Felix ist das zweite Kind von Franziska und Ronny Bolte (39). Ihre fünfjährige Tochter Leonie ist kerngesund. Auch die Schwangerschaft mit Felix verläuft relativ problemlos. Weil sie Diabetes Typ I habe, sei sie bei drei Ärzten in Behandlung gewesen, habe alle Tests gemacht, berichtet die 35-Jährige. Alles unauffällig. &bdquo;Nur sein Nasenbein war nicht zu hundert Prozent erkennbar.“ Aber als Felix im September 2021 per Kaiserschnitt auf die Welt kommt, muss er direkt beatmet werden. &bdquo;Es war ein Schock“, sagt seine Mutter. Seine Luftröhre ist zu schwach, um Luft aufzunehmen - die 35-Jährige vergleicht sie mit einer gekochten Nudel. Mit zweieinhalb Monaten bekommt er eine Tracheal-Kanüle eingesetzt, über das Röhrchen im Hals wird er mit Luft versorgt. &bdquo;Die Chancen stehen 50:50, ob er sie ein Leben lang haben wird.“ Mutter kann Sohn erste Woche nach der Geburt nicht sehen Immer wieder heißt es von den Ärzten: &bdquo;Wir haben da noch mehr gefunden.“ Franziska Bolte zählt auf: Felix hat eine seltene Form von Blutarmut, eine - mittlerweile geschlossene - innere Gaumenspalte. Seine Speiseröhre ist nicht zusammengewachsen, sondern stattdessen mit der Lunge und dem Bronchialsystem verbunden - an seinem fünften Lebenstag wird sie in Osnabrück operiert. Doch als den &bdquo;schlimmsten Tag ihres Lebens“ bezeichnet Bolte den Nikolaustag 2021: Da wird das Loch in Felix Herz geschlossen. Die gute Nachricht: Nach den ersten Eingriffen habe er sich berappelt. Nun seien zumindest alle akuten Fälle operiert und behandelt worden. &bdquo;Jetzt stehen die langfristigen Geschichten an.“ Dazu zählt zum Beispiel die Einschränkung wegen des Kiss-Syndroms: Felix’ dritter und vierter Halswirbel sind an den Schulterblättern festgewachsen. &bdquo;Er kann die Arme nicht richtig strecken und den Kopf nicht richtig drehen.“ Seine Gehörgänge sind fast verschlossen, er kommuniziert über Gebärdensprache, lautiert aber auch. Und dann fällt Bolte noch etwas ein: Ach ja, eine Gluten-, Weizen- und Eiklarunverträglichkeit habe Felix auch noch, sagt sie und lacht. Auch wenn die 35-Jährige sehr positiv wirkt - es ging ihr und ihrem Mann nicht immer so gut. Die erste Woche nach der Geburt kann sie ihren Sohn gar nicht sehen, weil sie weiter in Minden im Krankenhaus liegt, er für den Eingriff an der Speiseröhre nach Osnabrück verlegt wird. Fünf Monate bleibt er dort. Nach jedem Besuch hätten sie und ihr Mann im Auto geweint. &bdquo;Dann haben wir das Radio angemacht, um die Gedanken zu vertreiben.“ Pflegekraft geht auch mit in die Kita Im Januar 2022 kommt Felix noch einmal ins Krankenhaus nach Minden, bis ein Platz in der stationären Intensivpflege in Bielefeld frei wird. Im Haus Joshua lebt er ein Jahr. Ihren Alltag in der Zeit beschreibt Franziska Bolte so: Die Große in die Kita bringen, dann nach Bielefeld zu Felix fahren, mittags wieder zurück nach Minden, um die Tochter abzuholen. Am Wochenende ist die ganze Familie bei ihm. In Bielefeld leben auch Franziska Boltes Eltern, die bei der Betreuung der großen Tochter helfen. &bdquo;Bei der ganzen komplexen Sache rund um Felix, sind wir unserer Familie und unseren Freunden dankbar für die tolle Unterstützung in der schweren Zeit“, sagt sie. Im Februar 2023 kann Felix endlich nach Hause. &bdquo;Wir hätten nicht gedacht, dass er so fit wird.“ Surreal sei es gewesen, ihn mitnehmen zu können, erinnert sich Ronny Bolte. Der Pflegedienst hatte sich vorher das Haus der Familie angeschaut, ein Spezialbett wurde geliefert. Zwei der Pflegekräfte, die ihn schon im Haus Joshua betreut haben, begleiten ihn und die Familie künftig. Denn: Felix braucht weiter rund um die Uhr Betreuung. Tagsüber geht eine Pflegekraft auch mit in die Kita, um 19 Uhr kommt der Nachtdienst - Felix Werte und die Geräte müssen die ganze Zeit im Blick behalten werden. Jemand Fremden 24 Stunden um sich herum zu haben, empfindet Franziska Bolte durchaus als Einschränkung. &bdquo;Da bleibt ein Stück weit das Privatleben auf der Strecke.“ Dass an so einer Aufgabe Beziehungen scheitern, dafür hätten beide viel Verständnis, meint das Paar. Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an Ein Beitrag geteilt von Franziska (@franziska9063) Pflegende Eltern haben finanzielle Probleme Absaugen, Kanüle wechseln, Sonde austauschen - all das können auch die Eltern mittlerweile. &bdquo;Man wächst damit.“ Mittlerweile kommt der Pflegedienst am Wochenende nur noch nachts, so ist die Familie tagsüber unter sich. Aber die Pflege komplett übernehmen, das wollen sie nicht - auch wenn vor allem Franziska Bolte das häufig von anderen vorgeschlagen wurde. &bdquo;Felix soll nicht mein Job werden. Er ist mein Sohn. Außerdem habe ich tagsüber zwei Kinder zu betreuen.“ Zudem ist ihr Mann häufig mehrere Wochen am Stück weg, Ronny Bolte arbeitet bei der Marine. Auch finanziell stellt die Pflegesituation die Eltern, die vor Felix Geburt ein Haus gemietet haben, vor Herausforderungen: Es fehlt ein Einkommen, gleichzeitig macht sich in den Nebenkosten bemerkbar, dass mit der Pflegekraft eine weitere Person im Haushalt ist. Weil die Situation es unmöglich macht, direkt nach der Elternzeit wieder arbeiten zu gehen, bekommt die gelernte Einzelhandelskauffrau zunächst Arbeitslosengeld. Das ist irgendwann aufgebraucht, für Bürgergeld verdient ihr Mann jedoch zu viel. &bdquo;Als pflegendes Elternteil wird man nicht in allen Teilen aufgefangen“, findet die Mindenerin. &bdquo;Es wird erwartet, dass man gleich arbeiten geht. Aber viele vergessen, wie groß die Belastung ist, die dahinter steht.“ Dazu kommt: Auch wenn sie arbeiten wollte, manchmal fällt der Pflegedienst aus. Dann müsste sie ihrem Arbeitgeber sagen, dass sie nicht kommen kann. Kind wird 25 Mal an der Speiseröhre operiert Ihr Pflegedienst hat die Situation mitbekommen. Seit Kurzem arbeitet Bolte deswegen dort im Forderungsmanagement, anschließend holt sie um 14 Uhr die Kinder von der Betreuung ab. Felix geht zum Kinderturnen oder trifft sich mit Freunden. Geistig ist er genau so fit wie andere Kinder seines Alters. Ihren Sohn laufen zu lassen, war ein Lernprozess. &bdquo;Ich habe immer die Arme um ihn gelegt, um ihn zu schützen, falls er fällt. Er kann sich ja nicht abfedern“, sagt Ronny Bolte. Mittlerweile trauen die Eltern ihrem Sohn mehr zu. Felix könne seine Grenzen zudem gut selber einschätzen. Felix hat auch die beeindruckt, die ihn behandelt haben. So wurde die Familie von den Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel in Bielefeld Anfang des Jahres für eine bundesweite Plakat-Kampagne angefragt. In deren Krankenhaus wurde er unter anderem mehr als 25 Mal an der Speiseröhre operiert. Vor Kurzem war das Plakat auch in Minden in der Nähe des Bahnhofs zu sehen. Franziska Bolte hat es sich mit ihren Kindern angeschaut, ihr Vater machte ein Foto. Sie habe fast angefangen zu weinen, meint sie. Weil sie auf dem Bild den Weg sieht, den ihr Sohn zurückgelegt hat. &bdquo;Ich weiß, er hat Baustellen im Körper“, sagt Franziska Bolte über Felix. &bdquo;Aber für uns ist er ein ganz normaler Junge.“

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