Pornos und Erotik-Chats: Mann aus Minden-Lübbecke berichtet über Sexsucht

Minden. Als seine Frau an diesem Tag früher nach Hause kommt, rechnet er mit allem – nur nicht mit ihr in der Tür. In flagranti erwischt sie Wilhelm D. (Name geändert), wie er gerade Pornos auf seinem Handy schaut und onaniert. Sie ist entsetzt und sprachlos - und ihr Mann enttarnt. Denn die Videos und Erotik-Chats sind Teil seiner Sexsucht. &bdquo;Damals bin ich aufgeflogen - das löste ein Erdbeben in der Beziehung aus“, erinnert sich Wilhelm D.. Dieser Vorfall im Frühjahr 2024 sorgt für einen Wendepunkt. Der Mann aus dem Kreis Minden-Lübbecke merkt, dass er Hilfe benötigt, weil er zunehmend in virtuelle Welten geflüchtet ist. Ein Neurologe diagnostiziert bei ihm später eine Störung der Impulskontrolle. Wilhelm D. gehört zu den Menschen, die von Hypersexualität betroffen sind. Dazu zählen laut Experten Personen, deren sexuelle Verhaltensweisen so außer Kontrolle geraten sind, dass Betroffene sie nicht mehr steuern können. Wie viele genau davon betroffen sind, bleibt offen. Studien mit validen Zahlen gibt es nicht, Experten schätzen, dass es eine halbe Million Sex- und Pornosüchtige in Deutschland geben könnte. Wilhelm D. ist Anfang 60 und somit nicht allein. Er ist bereit, über ein schambehaftetes Thema offen zu reden, da er eine Selbsthilfe gegründet hat. Dabei möchte er anonym bleiben, sein richtiger Name ist ein anderer. Mehr zum Thema: Trockener Alkoholiker aus Bünde berichtet: So können Betroffene es aus der Sucht schaffen Die Frage eines Sexsüchtigen: &bdquo;Bin ich normal?“ Wilhelm D. sagt, dass er vielleicht etwas zu wohlbehütet in einem Dorf nahe des Ruhrgebiets aufgewachsen ist. Sein Vater stirbt, als er zwölf ist, damit fehlt ihm in der Pubertät ein männliches Vorbild. Sein katholisches Elternhaus sei ohnehin verklemmt, Sexualität in den 1970er sowie 1980ern in seinem Umfeld eher ein Tabuthema gewesen. &bdquo;Damals sprach keiner meiner Freunde und Kommilitonen über sexuelle Erfahrungen, es waren andere Zeiten - das klingt heute ein wenig lächerlich.“ Er selbst habe lange gedacht, dass er nicht normal sei. Während andere junge Männer Beziehungen führten, blieb er allein. Inzwischen hat er dafür eine Erklärung: &bdquo;Mir fehlte bei Frauen das Selbstbewusstsein.“ Mit Anfang 30 lernte er seine erste Partnerin und heutige Frau kennen, nachdem sie sich auf eine Magazinannonce meldet. Es ist seine erste richtige Beziehung. Dadurch erlebt er auch erstmals Sexualität. Eines setzt sich fort. &bdquo;Beim Geschlechtsverkehr war ich sehr unsicher, wir haben darüber aber nicht gesprochen, weil es schambehaftet war.“ Schlechte Gefühle befeuern Sexsucht Wilhelm D. bleibt ein Grübler und sensibel. &bdquo;Ich hatte ein schlechtes Selbstbild.“ Im Beruf hat er dennoch Erfolg, bis er sich als Berater selbstständig macht und es zeitweise nicht so gut läuft. &bdquo;Eigentlich konnte ich die Familie bis dahin gut versorgen, zu dem Zeitpunkt aber hat meine Frau mehr verdient.“ Sprüche wie &bdquo;Jetzt muss ich dich auch noch durchfüttern“ hätten ihn belastet. &bdquo;Da fühlte ich mich mies und ganz klein.“ In dieser Phase schaut er mehr Pornos im Internet und kommuniziert intensiver in Sex-Chats. Dort tauscht er sich anonym mit anderen über seine Fantasien aus, die im legalen Bereich lagen, betont er. &bdquo;Das hat mich abgelenkt, ich konnte den Kopf auch mal ausschalten.“ Er erfindet Ausreden, behauptet zum Beispiel, sich im Büro um die Steuererklärung zu kümmern, beschäftigt sich aber mit Videos und Chats. Dadurch entfernt er sich emotional von seiner Frau, das Familienleben leidet darunter. Viel Mühe war notwendig Auch als Wilhelm D. wieder fest arbeitet, wendet sich nicht wieder alles zum Guten. &bdquo;Dann bekam meine Frau Probleme und hatte eine depressive Phase.“ Es habe ihn viel Mühe gekostet, sie für irgendwas zu motivieren. &bdquo;Sie war vorher immer für den Austausch mit Freunden, den sozialen Part verantwortlich und war fröhlich, quirlig.“ Auch diese Situation befeuert die Sucht, denn die Beziehung kriselt, gemeinsame intime Momente gibt es nicht mehr. Meist sitzt er Stunden vor dem Rechner - immer dann, wenn es auf der Arbeit nicht gut läuft oder er andere Probleme hat. &bdquo;Das Chatten und die Pornos wurden zur Gewohnheit, eine Art Problemlöser, obwohl dadurch nichts dauerhaft besser wurde.“ Die Erotikportale hätten sein Leben bestimmt, &bdquo;aber es war nicht so, dass ich mich jetzt verkrochen habe und nichts mehr anderes unternehmen wollte.“ Nachdem ihn seine Frau erwischt hat, sprechen sie über sein Verhalten. Nur zögerlich rückt er mit der Sprache heraus. Für eine kurze Zeit zieht Wilhelm D. zu Freunden. Auch eine Reha, die nichts mit der Sucht zu tun hatte, sorgt für einen Abstand und hilft. Sein Hausarzt kann ihm bei seinem Problem nicht groß weiterhelfen. Die Mühlenkreiskliniken bieten zu Sexsucht keine Therapien an, dafür gibt es eine entsprechende Sprechstunde bei der Medizinischen Hochschulen Hannover. Sonderlich viele Angebote im Umkreis gibt es nicht. Lesen Sie auch: Leben mit einem Alkoholiker: &bdquo;Ich dachte, ich kriege das in den Griff“ Wann kippte alles? Wilhelm D. findet allerdings schnell Hilfe bei dem Verein Return. Dieser berät in Hannover unter anderem Männer, die unter ihrem Pornokonsum leiden. Er bietet auch Angebote für Frauen von internet-sexsüchtigen Partnern an, Wilhelm D.s Gattin nutzt sie ebenfalls. Die Gespräche helfen Wilhelm D. &bdquo;Da saßen Männer, die eine ähnliche Biografie wie ich hatten, in Beziehungen oder sehr einsam waren.“ Das Paar macht auch eine gemeinsame Therapie. Die Partner lernen, dass sie über viele Dinge offener ohne Scham und Angst hätten sprechen müssen. &bdquo;Dann wäre ich vielleicht nicht abgerutscht, aber eine Mitschuld gebe ich niemanden.“ Wann der Kipppunkt gekommen sei, könne er nicht mehr nachvollziehen. &bdquo;Das mit der Sucht ging bestimmt zehn Jahre.“ Sexsüchtiger ist jetzt clean Wilhelm D.s Frau habe ihm verziehen, berichtet er, sein Verhalten aber anfangs nicht nachvollziehen können. Viele Gespräche seien dafür notwendig gewesen. Seit dem Tag vor anderthalb Jahren schaue er keine Pornos mehr und kommuniziere nicht mehr in den Erotik-Chats. &bdquo;Ich bin clean und konnte dem bislang widerstehen.“ Er geht nach wie vor zu einer Psychotherapeutin und arbeitet an sich, damit ihn Rückschläge nicht hinunterziehen. Inzwischen ist er Rentner und freut sich über soziale Kontakte und Aktivitäten, die er zuvor nicht sonderlich geschätzt habe. Was mit heimlichen Chats begann, endete in einem Neuanfang. Wilhelm D. hat eine Männer-Selbsthilfegruppe zur Sexsucht gegründet. Die Mitglieder treffen sich alle zwei Wochen in den geraden Kalenderwochen dienstags um 18 Uhr in der Königstraße 80 in Minden. Weitere Infos gibt es dazu unter der Nummer (0151) 53155610 und auf www.alkomi.de

Meistgelesen