Corona-Krise: „Die eine oder andere Entscheidung war schwer nachvollziehbar“

Vor fünf Jahren erreichte ein bis dato unbekanntes Virus Europa. Was war ihr erster Gedanke als Bürgermeister? BERT HONSEL: Der erste Gedanke war, weil ich keinerlei Erfahrung mit Viruserkrankungen hatte als Bürger dieses Landes, dass das wohl nicht so schlimm sei. Wir reden jetzt über den März 2020, und da gab es für mich noch nicht erkennbar tiefgreifende Information über so eine auch den Tod bringende Infektionswelle. Wann erreichte Corona Ihr persönliches Umfeld? Das fing natürlich an mit den Einschränkungen, die wir alle, die wir in NRW und Deutschland leben, erfahren mussten. Dazu gehören die Einschränkung der Bewegungsfreiheit und das Tragen von Masken. Was waren die Gedanken, als die ersten Veranstaltungen abgesagt wurden und von einem Lockdown die Rede war? Einen Lockdown hatten wir alle in unserem Leben noch nicht kennengelernt. Das war natürlich für unsere freiheitsliebende Gesellschaft und auch für meine Familie und mich ein Novum, mit dem man erst einmal umgehen musste. Und es war auch schnell zu erkennen, dass es insbesondere für Familien in den Großstädten Deutschlands, Europas und weltweit mit erheblichen negativen Folgen auch im innerfamiliären Zusammenleben einhergehen konnte. Da waren wir im ländlichen Raum wie in Rahden zum Teil noch deutlich begünstigt, weil wir hier deutlich mehr Ausweichflächen wie den eigenen Garten zur Verfügung haben. Dann kam der 18. März 2020 mit dem Lockdown. Wie haben Sie diesen Tag in der Rückschau erlebt? Ich kann mich gar nicht mehr an das genaue Datum erinnern und kann auch wirklich nicht mehr sagen, was an dem Tag passiert ist. Ich glaube, das fällt unter bewusste Verdrängung oder die Angst vor einer Re-Traumatisierung. Die folgenden Tage und Wochen wurden ja nicht besser. Nein. Die größten Einschnitte mussten sicherlich unsere Kinder erleben. Unser Jüngster war noch Schüler in der Oberstufe des Gymnasiums und der Dauerausfall des Präsenz-Unterrichts war sicherlich negativ einschneidend. Und das Online-Angebot hat und konnte auch technisch zu diesem Zeitpunkt den Präsenz-Unterricht ersetzen. Unser Student in Berlin hatte glücklicherweise schon zwei Semester normal studieren können und hatte nicht das Gefühl – wie viele Erstsemester – entwickelt, wie einsam ein Studentenleben sein kann. Alle Erstsemester starteten in dieser Phase ein ganz einsames Studentenleben, sodass viele direkt wieder mit dem Studium aufhörten. Knallhart hat es unsere Tochter erlebt, die in Schanghai arbeitet. Aufgrund der chinesischen Regelung durfte sie mehrere Monate nicht ihr Appartement verlassen. Lesen Sie auch: Als das Coronavirus das Lübbecker Land lahmlegte Wie war es, als Bürgermeister die teils umstrittenen Maßnahmen durchsetzen zu müssen? Das fiel mir zum Teil schwer, weil ich nicht 100-prozentig die Logik einzelner Maßnahmen verstanden habe. Im Übrigen wurden die Verordnungen immer detaillierter, immer kleinteiliger und Neufassungen kamen ab irgendeinem Zeitpunkt quasi täglich, sodass es für uns als Verwaltung am Ende auch nicht mehr möglich war, alle Details abrufbereit auf Kommando wiederzugeben. Zum Beispiel gab es auch Kuriositäten wie die, dass Blumen und Pflanzen in spezialisierten Blumenläden nicht verkauft werden durften, wohl aber in Baumärkten. Oder dass man im Schwimmbad nur noch in eine Richtung im Kreis schwimmen durfte, um Begegnungsverkehr zu verhindern. Da hatte der Amtsschimmel hier und da zu laut gewiehert. Discounter durften Sortimente verkaufen, während der stationäre Einzelhandel mit dem gleichen Sortiment dichtgemacht wurde. Man durfte ins Bethaus gehen, aber nicht in die Kneipe. War nicht auch viel Willkür dabei? Ich würde nicht von Willkür sprechen, wenn deutsche Behörden handeln. Aber die ein oder andere Entscheidung war, wie schon erwähnt, schwer nachvollziehbar. Dann traten die teils aggressiven Corona-Skeptiker auf den Plan. Landräte und Bürgermeister wurden zum Teil bedroht. Sie auch? Nein. Die Rahdener Bevölkerung hat sicherlich einiges nur zähneknirschend mitgetragen, was in Berlin und Düsseldorf zur Bewältigung der Krise entschieden wurde. Die Rahdenerinnen und Rahdener haben aber den Ausgangspunkt, warum es zu Lockdowns und Beschränkungen kam, meines Erachtens sehr wohl verstanden. Insbesondere die Situation in den Krankenhäusern nicht eskalieren zu lassen, weil nämlich das medizinische Personal in Deutschland und Europa offensichtlich wegen der großen Zahl von Menschen, die teils sehr schwer am Coronavirus erkrankten, am absoluten Limit ihrer Belastungsfähigkeit ankam. Deshalb kam es auch nicht zu Anfeindungen gegen Mitarbeiter der Verwaltung oder gegen mich. Was hat die Corona-Krise mit den Menschen gemacht? In mir hat sie sicherlich hervorgerufen, dass ein Staat wie Deutschland in solchen Krisen einerseits handlungsfähig ist, auf der anderen Seite aber bei der Entscheidung bestimmter Einzelfälle und einzelner Sachverhalte zum Teil überreagiert hat, wie zum Beispiel im Bereich Kitas und Schulen. Sprich: Nach meinem Dafürhalten muss ein Staat bei einer vergleichbaren künftigen Krise noch überlegter handeln und Konsequenzen seines Handelns noch stärker in den Blick nehmen. Nicht nachvollziehen kann ich Ansichten von Menschen in Deutschland, die wegen der Coronakrise das ganze Staatssystem infrage gestellt haben. Lesen Sie auch: &bdquo;Als wäre man entmündigt“: Rahdenerin zieht Bilanz der Corona-Auflagen Was hat in der Coronakrise gut funktioniert und was nicht? Gut funktioniert hat meines Erachtens unsere Stadtverwaltung, die sich sehr schnell umgestellt hat von einer Präsenz-Anbietung der Dienstleistungen hin zu einer deutlich verstärkten Digitalisierung der Arbeit. Das ist ein positiver Effekt aus der Coronakrise – dass wir nämlich seitdem auch zwischen den verschiedenen Behörden digitalisiere Meetings haben, die es seitdem zum Großteil überflüssig machen, nach Detmold, Düsseldorf oder sonst wohin zu Besprechungen zu fahren. Ein weiterer positiver Effekt ist, dass sich die Stadtgesellschaft in Rahden zum Teil sehr schnell neu aufgestellt hat, indem sich zum Beispiel Ehrenamtliche gefunden haben. Sie haben für die von der Krise besonders betroffenen älteren Rahdenerinnen und Rahdener Einkäufe erledigt und bis vor die Tür gebracht und damit die Infektionsgefahr für diese Menschen reduziert. Was nicht immer funktioniert hat, war, der Bevölkerung bestimmte behördliche Entscheidungen zu erklären. Das hat sicherlich in einer Anzahl von Fällen zu Unverständnis, vielleicht auch Wut gegenüber staatlichen Behörden geführt. Was ist Ihr persönliches Fazit fünf Jahre danach? Ich hoffe, dass meine Familie und ich und insgesamt alle Menschen in Rahden eine solche Krise nicht wieder erleben müssen. Und wenn doch, was bei dieser Welt ohne Grenzen leider nicht auszuschließen ist, dann hoffe ich, dass Deutschland und Europa aufgrund der Erfahrungen mit der Coronakrise der vergangenen Jahre mit mehr Sensibilität und Weitblick einer solchen Krise begegnen. 📱News direkt aufs Smartphone: Kostenloser WhatsApp-Kanal der NW Kreis Minden-Lübbecke

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