Steinmeier zur Stadtentwicklung: „Die Espelkamper Mischung funktioniert“

Espelkamp. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nahm Dienstagabend nicht den Haupteingang, um den großen Veranstaltungssaal des Kulturzentrums Alte Gießerei zu betreten. Dort warteten gut 300 geladene Gäste auf das Staatsoberhaupt. Steinmeier nahm den Hintereingang, wo er zunächst eine halbstündige Führung mit der Museumsleiterin des Deutschen Auswandererhauses, Simone Blaschke, und Kurator Alexander Kollecker erlebte. Mit dabei war auch Bettina Bradt, der es ein großes Anliegen war, die Geschichte ihrer Eltern weiterzugeben. Sie hatte von der geplanten Ausstellung gehört und sich an das Auswandererhaus gewandt. Die in Rinteln wohnende Kunsttherapeutin hatte sich privat intensiv mit der Fluchtgeschichte ihrer Eltern beschäftigt. Gemeinsam mit ihrem Bruder Mathias Ende hatte sie herausgefunden, dass Vater Kurt Ende direkt nach dem Krieg als Zimmermann in Espelkamp mitgeholfen hatte, eine neue Stadt aus den Resten der Munitionsanstalt (Muna) wiederaufzubauen. Mit dem ersten dort verdienten Geld hatte sich ihr Vater ein Moped Marke NSU Quickly angeschafft, mit dem für ihn ein Stück Normalität einkehrte. Diese Geschichte ist in der jetzt eröffneten Ausstellung &bdquo;Neu anfangen, nur wie? Espelkamp und andere ,Flüchtlingsstädte’ in den 1950er Jahren“ nachzulesen. Das erzählte sie auch dem Bundespräsidenten und überreichte dem Auswandererhaus gleichzeitig eine von ihr kreierte Kunstinstallation, die ebenfalls in Espelkamp zu sehen ist. Mit unserem Liveticker bleiben Sie während des Bundespräsidenten-Besuchs auf dem Laufenden. Präsident kam durch den Hintereingang Nach diesem privaten Rundgang betrat Steinmeier den Gießerei-Saal durch den Hintereingang, nicht ohne vorher deutlich angekündigt worden zu sein. Applaus brandete auf, als das Staatsoberhaupt die Bühne betrat. Doch zunächst wurde er von Bürgermeister Henning Vieker begrüßt, der voll des Lobes war: &bdquo;Das ist das größte Geschenk, das man einer Stadt zu ihrem Geburtstag machen kann. Mehr geht nicht.“ Die Stadt sei genauso alt wie die Bundesrepublik. Wie in einem Brennglas sei in Espelkamp spürbar, was die Menschen nach dem Krieg geleistet hätten mit Pioniergeist und Gestaltungswillen. Frank-Walter Steinmeier nahm die Ausstellungseröffnung zum Anlass, seine erste größere Rede während der Ortszeit Espelkamp zu halten. Er zitiert eine Zeitzeugin aus der Ausstellung: &bdquo;Es gab keine Straßen, alles Sand und viele Kiefern standen hier.“ Wenn man heute durch Espelkamp gehe, sei davon nichts mehr zu sehen, machte er deutlich. Eine lebendige, moderne Stadt sei in den vergangenen 75 Jahren entstanden, die von sieben westfälischen Dörfern wie Satelliten umgeben sei. Nicht zu sehen sei die Hoffnung auf Zukunft und Heimat, stellte er fest. Heute sei Espelkamp immer noch eine sehr junge Stadt. Er reise mit &bdquo;Zeit im Gepäck“, um diese Vision und das Modell Espelkamp zu verstehen und allen vor Augen zu führen. Man habe es hier mit einem &bdquo;verdichteten Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte“ zu tun, das in seiner Art des Zusammenwachsens wohl einmalig in ganz Deutschland sei. In der Ausstellung kämen mehrere Teile des Projektes wie in einem Puzzle zusammen, und es sei ihm eine Ehre, zu den ersten Besuchern dieser Ausstellung zu gehören. Er kenne die Geschichte von Vertreibung und Flucht selbst sehr gut. Seine Familie sei im Viehwaggon unweit von Breslau geflüchtet. Zwölf Millionen Menschen aus den Ostgebieten seien, wie sie, von Ost nach West geflüchtet bis 1950. Sie seien hier angesiedelt worden. Dieses Wort klinge in vielen Fällen zu freundlich, oftmals sei es eine Flucht ins Ungewisse gewesen. Flüchtlingen schlug oft Unverständnis entgegen In der Sicherheit angekommen, war man oft nicht willkommen, Ablehnung, Ressentiments und Unverständnis sei vielen Flüchtlingen entgegengebracht worden. Auch Arbeit sei am Anfang nur schwer zu finden gewesen. Jeder 5. Mensch in Ostwestfalen-Lippe habe Vorfahren, die Flüchtlinge und Vertriebene waren, ganze Familien mussten zunächst in Ställen und Scheunen leben. Es fiel vielen zunächst schwer, Hoffnung zu finden. Da sei die Gründung des evangelischen Hilfswerkes, mit den Alliierten und der neuen Selbstverwaltung ein &bdquo;beispielloses Projekt“ gewesen. Das neue Espelkamp wurde zu einem Symbol der Hoffnung, betonte Steinmeier. Später kamen Gastarbeiter aus verschiedenen Ländern und Bürgerkriegsflüchtlinge und zuletzt auch Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine hinzu, die diese Tradition fortsetzten. Steinmeier: &bdquo;Kaum eine andere Stadt in Deutschland ist von all dem so geprägt worden wie diese Stadt.“ Dennoch sei das Zusammenleben nicht einfach und die Aufgabe des friedlichen Zusammenlebens nicht einfacher geworden. &bdquo;Es lohnt sich, von Espelkamp zu lernen. Es ist viel Gutes entstanden.“ Hier sei nicht nur geredet, sondern angepackt worden, die &bdquo;Espelkamper Mischung funktioniert“. Es sei eine Freude für ihn, einer auf diese Weise zusammengewachsenen Stadt gratulieren zu dürfen. Auswandererhaus-Museumsleiterin Simone Blaschke ergriff abschließend das Wort und stellte fest, dass die Form der Sonderausstellung eine Möglichkeit sei, ein Thema zu vertiefen. In ihrem Haus seien bisher 320 Jahre Aus- und Einwanderungsgeschichte verschiedener Volksgruppen dokumentiert worden. Nur bei der deutschen Geschichte habe man sich bisher schwergetan, das sei nunmehr beendet worden. Grund sei, dass sich unter anderem auch der Bund der Vertriebenen immer dagegen gewehrt habe mit der Feststellung, dass dies bei den Deutschen nicht so sei wie bei den anderen Völkern. In Espelkamp habe man schnell Menschen gefunden, die sich zu einer eigenen Flucht- und Vertreibungsgeschichte bekannt hätten. Blaschke gab bekannt, dass diese Sonderausstellung später in das Oral-History-Archiv übernommen werde und damit Forschungszwecken zur Verfügung stehe. Auch könne man ab sofort auch digital die Ausstellung besuchen. Alle Artikel zum Besuch des Bundespräsidenten in Espelkamp finden Sie auf unserer Themenseite.

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