Warum es bei den Poetischen Quellen in Bad Oeynhausen und Löhne unterschiedliche Antworten auf sechs Krisen der Gegenwart gibt

Bad Oeynhausen. Gewitter reinigen bekanntlich die Atmosphäre. Da werden Spannungen abgebaut, es blitzt und kracht, aber danach ist der Himmel wieder friedlich. Ganz ähnlich funktionieren Gesprächsrunden im Fernsehen und auf Podien. Die Gäste werden meist schon im Vorfeld so eingeladen, dass klar ist, wer mit wem aneinanderrasseln und wo Rauch aufsteigen wird. Das Sonntagsgespräch auf dem Literaturfest Poetische Quellen funktioniert ein klein wenig anders. Ein Gewitter gab's diesmal trotzdem, erst in echt und dann auch auf dem Podium. Entzündet hat sich der kurze, aber heftige Krach unter zwei Gesprächsteilnehmern über die Frage, wie vernünftig oder wie emotional gesellschaftliche Widersprüche eigentlich ausgehandelt werden sollten. Der Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Jürgen Kaube, kritisiert Rationalität als ein Konzept fürs akademische Seminar - Menschen hätten schließlich Emotionen. Die Direktorin des Potsdamer Einstein-Forums, Susan Neiman, widerspricht: "Wenn Qualitätszeitungen Unvernunft verbreiten, wie soll dann der Diskurs vernünftiger werden?" Neiman setzt auf Aufklärung und Vernunft. Jürgen Kaube hält nicht dagegen, spricht aber von Vernunft im Plural, es gebe, so führt er aus, nicht nur eine vernünftige Position. Der kurze, aber heftige Streit führt zu Zwischenrufen aus dem Publikum und einem Schlichtungsversuch des dritten Gesprächsteilnehmers, des Bielefelder Historikers Joachim Radkau, der seit langem für eine Antipolarisierung der Positionen wirbt und seine "Anti-PoPo-Initiative" halb scherzhaft im Gespräch mit der NW vorab ankündigte. Wokeness ist nicht links Das Gewitter beim Sonntagsgespräch ist der einzige Moment, in dem es spürbar knistert. Und das, obwohl die Diskussion zwei Stunden lang über sechs Krisen der Gegenwart verhandelt. Moderator Jürgen Keimer fragt die drei Intellektuellen nach ihren persönlichen Antworten und liefert Stichworte. Los geht's mit der Krise der Sprache, mit der woke Linke angeblich die Gesellschaft spalten. Susan Neiman stellt jedoch heraus, das diese aus den USA nach Europa geschwappte Wokeness, also die Überempfindlichkeit gegenüber gesellschaftlichen Problemen, nicht per se eine Sache der politischen Linken sei. Jürgen Kaube erntet für sein Bekenntnis zu einer Sprache mit generischem Maskulinum und seinem Verzicht aufs Binnen-I erst Zustimmung, für seine Erklärung dann aber Empörung. Er meide "nervige Schlucklaute", erklärt Kaube. Jedes Binnen-I scheine die Emanzipation der Frau zu fordern, "obwohl sie längst verwirklicht ist". Diese These löst im Publikum lautstarken Widerspruch aus. Dabei plädiert Kaube eigentlich für mehr Gelassenheit im Umgang mit Sprache. "Das ist ein Konflikt, aber keine Spaltung der Gesellschaft." Joachim Radkau hält die krisenhafte Zuspitzung für konstruiert. Er verweist darauf, dass "die Medien" es so darstellten, "als ob wir in besonders krisenhaften Zeiten" lebten. In der jungen Bundesrepublik der 1950er Jahre hätten viel größere Konflikte im Hintergrund gedräut: "Das war nukleares Wildwest." In der Gegenwart allerdings sieht der Historiker durchaus Anlass zur Sorge - und zwar mit Blick auf Waffenlieferungen und das Eskalationspotenzial im Ukrainekrieg: "Manchmal wird mir nicht genug nachgedacht." Zwei Freunde, erzählt Radkau, hätten wegen seiner Haltung zum Ukrainekrieg mit ihm gebrochen, allerdings nur vorübergehend. Der Intellektuelle und die Wärmepumpe Über die Energiekrise und die angekündigte Gasmangellage reden sich die drei auf dem Podium zügig zur Klimakrise durch. Den elegantesten Übergang schafft Susan Neiman, die angesichts anhaltenden Kohlendioxidausstoßes und steigenden Meeresspiegels feststellt: "Es gibt nicht genügend Berge auf dieser Welt." Jürgen Kaube verweilt noch einen Moment beim deutschen Heizungsgesetz, der Wärmepumpe ("Ich selbst weiß gar nicht, was das ist") und den Erklärungsversuchen von Robert Habeck, der im Jahr zuvor von Philipp Reemtsma auf den Poetischen Quellen noch für seine Kommunikationsfähigkeiten hoch gelobt worden ist. Kaube sieht in der Klimakrise einen sich selbst verstärkenden Prozess und befürchtet, dass der Punkt längst überschritten sei, an dem Menschen "durch moralisches Handeln" die Krise noch verhindern können: "Möglichkeiten und Wille sind auf der Welt nicht gleich verteilt." Susan Neiman setzt eine moralische Pflicht zur Hoffnung dagegen: "Viele glauben, es sei zu spät. Dabei gibt es noch eine Menge, was wir tun können." Joachim Radkau vermisst einen Bürgerdialog mit Argumenten zum Für und Wider der Lösungsansätze. Bei der Debatte um die Kernenergie habe es diesen Diskurs abseits der großen Schlagzeilen gegeben. "Stimmungskrisen gehen vorbei" Die gleiche Diskurslücke sieht der Historiker auch bei der Krise der Migration. "Wir brauchen Einwanderung, das kann sehr wertvoll sein, es kann aber auch zu weit gehen." Niemand könne ernsthaft den Islamismus wünschen. Man dürfe der AfD nicht allein Raum lassen, sondern selbst eine vernünftige, offene Diskussion führen. Jürgen Kaube verweist auf die erste Fluchtkrise 2015 und die Aufnahme vieler Ukrainer seit 2022. Susan Neiman lobt die Deutschen für ihren Umgang mit Migration. "Den USA erkläre ich, dass Angela Merkel politisch noch links von Bernie Sanders steht." Die letzte Krise, die das Podium diskutiert, ist die Stimmungskrise. Doch diese Krise identifizieren alle drei als eingebildete Krise. Jürgen Kaube verweist auf den Weltglücksindex. Deutschland belege zwar immer einen Platz im Mittelfeld, was aber daran liege, dass die Lage im Land schlechter geredet werde als sie ist. Dagegen hat auch Susan Neimann nichts einzuwenden. Und Radkau sagt: "Stimmungskrisen sind bloße Stimmungskrisen. Sie gehen vorbei."

Meistgelesen