Nach Wittekindshof-Skandal: Laumann setzt Zeichen für Gewaltschutz

Bad Oeynhausen. Schon wieder der Wittekindshof: NRW-Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) muss sich zum zweiten Mal in seiner politischen Laufbahn mit einem Skandal in der diakonischen Einrichtung in Bad Oeynhausen-Volmerdingsen beschäftigen. Nach den Misshandlungen von Heimkindern in der Nachkriegszeit sind es Vorwürfe von Angehörigen und die Anklage der Staatsanwaltschaft Bielefeld gegen vier ehemals leitende Angestellte des Wittekindshofes wegen des Einsatzes von Tränengas und Freiheitsentzug gegen Behinderte mit besonders herausforderndem Verhalten. Laumann stellte aus diesem Anlass am Dienstag eine Initiative zum Gewaltschutz vor. Die Auftaktveranstaltung wurde live im Internet übertragen. Der Sozialminister warb trotz aller Skandale eindringlich für Ausbildung in den Sozialberufen der Behindertenhilfe. In einer persönlichen Bemerkung sagte Laumann rückblickend zum Heimkinder-Skandal: "Ich dachte, wir haben damals nicht hingeguckt, aber heute sind wir so gut, das wird uns nicht wieder passieren." Dann machten Angehörige gegenüber der NW im Mai 2019 neue Vorwürfe gegen den Wittekindshof öffentlich. Der Sozialminister betonte, dass es der Gewaltschutz-Initiative nicht darum gehe, alles schlecht zu reden, sondern ein Signal zu setzen. Jeder Mensch habe ein Recht auf ein gewaltfreies Leben. Ziel der Initiative sei, Menschen mit Behinderungen wirksamer vor Gewalt zu schützen: "NRW muss Vorbild sein!" Der Beruf sei aber nur dann für junge Menschen interessant, wenn sie Begleitung und Beratung an ihrer Seite wüssten. In der Vergangenheit habe die Behindertenhilfe "stark von Wehrdienstverweigerern profitiert", so der Minister. Man müsse jetzt auch am Personalschlüssel drehen und den Bundesfreiwilligendienst erweitern. "Am Ende wird man uns daran messen, wie gut wir die Rechte der Menschen schützen, die sich selbst nicht schützen können." Gewaltschutz ist eine Herausforderung, die alles abverlangt Georg Lunemann, Direktor des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL), schlug in die gleiche Kerbe: Es sei "entsetzt" über die Vorwürfe gegen den Wittekindshof, zugleich gelte aber die Unschuldsvermutung für die Angeklagten. Die Vorwürfe zeigten, wie aktuell und sensibel das Thema sei. "Wir brauchen jetzt ein starkes Signal und Zeichen zum Gewaltschutz." Lunemann wandte sich direkt an die Beschäftigten der Behindertenhilfe, er wisse von der Arbeit unter schwierigen Bedingungen, schließlich könnten Mitarbeiter selbst Opfer von Gewalt werden. Der Gewaltschutz sei eine "Herausforderung, die alles abverlangt". Er habe "größten Respekt vor jedem Menschen, der diese Arbeit tut". Der überwiegende Teil der Beschäftigten leiste "Tag für Tag hervorragende Arbeit". Der LWL bezahlt Träger wie den Wittekindshof für die Eingliederungshilfe von Menschen mit Behinderungen. Nach Angaben von Lunemann sind das jährlich etwa drei Milliarden Euro Steuergeld. Zugleich steht der LWL in der Kritik, nicht genügend kontrolliert zu haben, ob und wie das Geld den Menschen wirklich zugute kommt. Gegen solche Kritik führte Lunemann an, dass der LWL "in einem umfangreichen Leitfaden seit 2017 Gewaltschutz-Standards" eingeführt habe. Lunemann: "Ohne die Mitarbeiter wird die Umsetzung aber nicht gelingen." Der Vorsitzende der Expertenkommission "Gewaltschutz" Günter Garbrecht (SPD) erinnerte an "die vielen schwarzen Löcher" in der Behindertenhilfe. Es sei völlig unklar, wie viele freiheitsentziehende Maßnahmen in NRW in welchen Einrichtungen durchgeführt würden. Weder Intensität, noch Dauer seien bekannt. "Es gibt nur Annäherungsdaten." Mit Blick auf den Wittekindshof-Skandal sprach Garbrecht von der "Janusköpfigkeit" der Institutionen. Auch in Bad Oeynhausen habe es längst Konzepte zum Gewaltschutz gegeben. "Auf dem Papier ist das vorbildlich. Die Praxis ist aber eine andere." Garbrecht erneuerte seine Kritik an den Aufsichtsbehörden und dem LWL und forderte, die allseits verbreitete "Tunnelblickmentalität" aufzugeben. Er sei jedenfalls "froh, dass die Staatsanwaltschaft endlich in die Pötte gekommen ist" und "bei den Häuptlingen angefangen wird, nicht bei den Indianern". LWL stellt zentrale Unterbringungen in Frage Der unter anderem für den Wittekindshof zuständige LWL-Sozialdezernent Matthias Münning stellte klar: "Wir haben nicht gewartet, bis Herr Garbrecht mit seinem Bericht fertig ist." Der LWL habe inzwischen selbstkritisch geprüft, ob das neue Wohn- und Teilhabegesetz so umgesetzt werde, wie es vom Gesetzgeber gemeint ist. Bei acht von 24 Personen mit herausforderndem Verhalten sei dabei unklar gewesen, wie man mit ihnen richtig umgehen solle. Der LWL habe in diesen Fällen zusätzlichen Rat von einem Mediziner und einem Heilpädagogen gesucht und neue Hilfen entwickelt. Seitdem sei die Zahl der freiheitsentziehenden Maßnahmen deutlich zurückgegangen, so Münning. Geld sei außerdem nie das Problem gewesen. Der LWL zahle in einzelnen Fällen bis zu einer Million Euro im Jahr für die Betreuung von Menschen mit herausforderndem Verhalten. Strukturelle Gewalt ist Münnings Überzeugung nach aber direkt mit der Wohnsituation verbunden. Mit Blick auf Einrichtungen wie den Wittekindshof in Bad Oeynhausen oder Bethel in Bielefeld sprach der LWL-Sozialdezernent Klartext: "800 oder 900 Menschen auf einem Fleck - das ist unerträglich." Kleinere Wohngemeinschaften und dezentrale Unterbringung ist einer der Vorschläge der Expertenkommission zum Gewaltschutz. Das Konzept dezentraler Unterbringungen verfolgt der Wittekindshof bereits seit einiger Zeit. Die vollständige Umsetzung wird allerdings vermutlich viele Jahrzehnte dauern - und bedeutet die Aufgabe zahlreicher Gebäude und Infrastruktur in Volmerdingsen. Der Wittekindshof ist seit 1887 praktisch ein eigenständiger Ortsteil.

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