Was passiert im Ernstfall? Der Bürgermeister hat keinen Atomschutzbunker

Bad Oeynhausen. Lars Bökenkröger kneift ein Auge zu und blinzelt überrascht zum Fragesteller. Wo der Bürgermeister im Fall des Atomkrieges Schutz sucht? "Tja", sagt Bökenkröger: "Keine Ahnung." Und nach einem Moment des Innehaltens sagt er: "Es ist furchtbar, sich solche Gedanken zu machen." Bis vor ein paar Wochen hätte der Fragesteller diese Frage niemals gestellt. Doch seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ist der vergessene Kalte Krieg der Atommächte plötzlich ziemlich heiß geworden. Und spätestens seit dem Einmarsch der Russen in Tschernobyl und Saporischschja, dem größten Atomkraftwerk in Europa, machen sich Menschen Gedanken über das Verhalten bei einem erneuten Reaktorunfall. Einen öffentlichen Schutzraum gibt es in Bad Oeynhausen nicht mehr. Stadtpressesprecher Volker Müller-Ulrich weiß auf Anfrage keinen solchen Raum zu nennen. Dabei gab es im Kalten Krieg noch Gesetze, die den Bau von Schutzräumen regelten. Bis zu 2.000 solcher Schutzräume gab es in ganz Westdeutschland, einige boten Platz für bis zu 10.000 Menschen. Auch in Bad Oeynhausen gab es einen Luftschutzbunker. Im Bauamt der Stadtverwaltung arbeitet aber niemand mehr, der sich mit diesem Thema ernsthaft beruflich beschäftigt hat und dazu Auskunft geben könnte, erklärt der Stadtpressesprecher. Für den Zivilschutz ist die Landrätin des Kreises Minden-Lübbecke zuständig. Kreispressesprecherin Sabine Ohnesorge verweist auf Nachfrage auf Ratschläge des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Kreis hat 1,5 Millionen Jodtabletten Eigene Schutzräume, so Ohnesorge, unterhält der Kreis als untere Katastrophenschutzbehörde nicht. Der Mühlenkreis verfügt aber über die nationale Jodreserve für den Fall eines Atomreaktorunfalls. Das sind 302 Kartons mit 512 Blistern und insgesamt etwa 1,5 Millionen Jodtabletten, um die Aufnahme von radioaktivem Jod zu blockieren. Im Fall des Falles werden diese Tabletten vom Kreis verteilt und die Bevölkerung zur Einnahme aufgerufen. Sich aber jetzt auf eigene Faust Tabletten zu besorgen und vorsorglich zu schlucken, ist keine gute Idee. Experten warnen: Das würde gesunde Menschen krank machen. Derzeit gibt es zudem keinen Anlass zur Sorge. Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) beobachtet die Lage in Tschernobyl und Saporischschja fortlaufend und schreibt aktuell: "Nach Einschätzung des BfS besteht aktuell keine akute Gefahr einer Freisetzung von radioaktiven Stoffen. Es liegen auch keine Hinweise vor, dass in der Ukraine Radioaktivität freigesetzt worden sein könnte. Die verfügbaren radiologischen Messwerte bewegen sich im normalen Bereich." Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe erreichen derzeit viele Anfragen wegen des Kriegs in der Ukraine. Die obersten Katastrophenschützer versuchen zu beruhigen und schreiben: "Dass Deutschland vor dem Hintergrund des bewaffneten Konflikts in der Ukraine einem Luftangriff ausgesetzt sein wird, ist unwahrscheinlich." Die Ratschläge für den Fall eines kriegerischen Angriffs sind nicht viel anders als im Kalten Krieg: "Guten Schutz bietet generell die vorhandene Bebauung, sowohl vor fliegenden Objekten als auch vor Kontamination mit chemischen oder nuklearen Stoffen." Im Fall eines Angriffs sollten innen liegende Räume aufgesucht werden "mit möglichst wenigen Außenwänden, Türen und Fenstern" - wegen der Verletzungsgefahr durch Splitter. Wer nicht zu Hause ist, solle wenn möglich ein Gebäude mit Innenräumen oder "am besten unterirdische Gebäudeteile" wie U-Bahn-Stationen aufsuchen. Fahrstühle sollten gemieden werden. Krisenstab hat keinen Schutzraum Im Katastrophenfall würden Landrätin Anna Bölling und der Krisenstab des Kreises die Hilfsmaßnahmen vor Ort koordinieren. Die Feuerwehren haben spezielle Schutzeinheiten, die für den Umgang mit atomaren, biologischen und chemischen Gefahren (ABC-Schutz) ausgerüstet sind. Zwei dieser ABC-Schutzzüge können nach Auskunft von Ohnesorge aus den Feuerwehren im Mühlenkreis gebildet werden. Einen Schutzraum hat der Kreis nicht. Auch für den Krisenstab gibt es keinen solchen Raum. Derzeit tagt der Stab während der Coronakrise im Kreishaus. Wenn das Feuerwehrtechnische Zentrum in Hille fertig ist, soll der Krisenstab dorthin umziehen. Doch auch dort gibt es keinen Schutzraum. Und der Luftschutzbunker in Bad Oeynhausen ist seit Dezember 2015 nicht mehr da. Er befand sich unter der alten Kurverwaltung am Ostkorso, die 1960 als neues Badehaus II eingeweiht wurde. Kostenpunkt inklusive Bunker: fünf Millionen Mark. Im Jahr 2005 hat die NW die Kellerräume besichtigen können, die damals schon ziemlich abgerockt waren. Im Juni 2002 war im Untergeschoss ein dort geparkter Kleintraktor ausgebrannt. Qualm und Ruß machten das gesamte unbenutzbar. Selbst die Spinnweben im Luftschutzbunker waren schwarz vor Ruß. Eine tonnenschwere Stahltür versperrte damals den Eingang zum Vorraum, an den sich drei weitere Zimmer anschlossen: ein kleines in der Mitte, zwei größere links und rechts. Der Bunker bot Platz für etwa 20, 25 Menschen. Ende 2015 wurde die alte Kurverwaltung nach ungewöhnlich langen Abrissarbeiten dem Boden gleich gemacht. Bad Oeynhausener Bunker hält 55 Jahre Das letzte Überbleibsel des Gebäudes war ein blaugrünlich schimmernder Betonbrocken. Staatsbad-Betriebsleiter Dirk Henschel hat ihn sich nach Abschluss der Abrissarbeiten auf den Schreibtisch gelegt. Da hat der Betonbrocken aber nicht lange gelegen. "Den habe ich nicht mehr", sagt Henschel auf Nachfrage. Er kann sich aber noch gut an die Farbe erinnern. Blaugrün gilt offenbar als Zeichen für besonders guten Beton. Die Stahlbetonwände des Bunkers waren etwa einen halben Meter dick und einer der Gründe dafür, dass der Abrissbagger sich an der alten Kurverwaltung fast die Stahlzähne ausgebissen hatte. Wofür und für wen der Bunker einmal vom Staatsbad gebaut wurde, weiß Henschel nicht. In den 1960er Jahren war es aber Pflicht, beim Bau von öffentlichen Gebäuden einen entsprechenden Schutzraum anzulegen. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Bunker für den damaligen Kurdirektor angelegt wurde", sagt Henschel. Luftschutzräume waren in Westdeutschland Aufgabe des Zivilschutzes. Viele dieser Räume waren eigentlich Bahnhöfe oder Tiefgaragen, die so ausgestattet wurden, dass die Bevölkerung im Kriegsfall dort hätte Schutz finden können. Eigentümer der Schutzräume waren meist die Kommunen, der Bund bezahlte aber die Bewirtschaftung und Verwaltung der Anlagen. 2007 beschlossen Bund und Länder dann das Aus für das veraltete Schutzkonzept. Seitdem werden die Bunker abgewickelt. Und zwar von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, Geschäftsbereich Verwaltungsaufgaben (Zivilschutz), in Bielefeld. Einsam im Bunker? Die Landrätin würde im Fall des Falles also ins Feuerwehrtechnischen Zentrum nach Hille ziehen, wenn dazu noch genügend Zeit sein sollte. Der Bad Oeynhausener Bürgermeister hätte so eine Möglichkeit nicht. Und wenn es den Schutzraum am Ostkorso noch gäbe? Bökenkröger zögert nicht lange. Sich darin zu verstecken, hielte er für "Quatsch". Denn sollte der Bürgermeister im Bunker einen Atomkrieg überleben - wessen Bürgermeister sollte er dann sein?

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