Poetische Quellen: Wie gefährdet ist unsere Demokratie?

Bad Oeynhausen/Löhne. Kapitalismuskritik war mal ein Volkssport, der die Massen bewegte. Leistungssportler in dieser Disziplin brachten es zu einigem Ruhm, sie wurden gar als Gefahr für die Herrschenden erkannt. Inzwischen sitzen selbst die schärfsten Kritiker ziemlich fest im Sattel, auf Lehrstühlen oder in anderen Institutionen der Republik, schreiben Bücher und reden darüber. Auf dem Literaturfest Poetische Quellen taten das am Sonntag drei schreibende Kritiker vor Publikum auf der Aqua Magica. Die drei waren sich erstaunlich einig, warum der Kapitalismus eigentlich am Ende ist. Zauberformel des Kapitalismus Dabei kommen die Professoren Wolfgang Streeck, Armin Nassehi und Joseph Vogl aus verschiedenen Denkschulen. Streecks &bdquo;Zauberformel“ findet trotzdem Zustimmung. Es die Antwort auf die Frage: Warum wird Jeff Bezos, der Gründer von Amazon, eigentlich immer reicher? Der ehemalige Hochschullehrer und Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln, Wolfgang Streeck, erklärt das mit der &bdquo;Erziehung eingeschüchterter Arbeiter zu optimistischen Konsumenten“. 95 Prozent der arbeitenden Bevölkerung sorgten dafür, dass sich das Kapital bei fünf Prozent anreichere. Karl Marx habe bei der Erforschung des Frühkapitalismus dagegen noch ein Phänomen beschrieben, das es heute nicht mehr gibt: Arbeiter ließen bei einer Lohnerhöhung das Arbeiten sein, blieben schon am Donnerstag zuhause oder setzten das Lohnplus in Alkohol um (&bdquo;blauer Montag“). Die Frühkapitalisten hätten deshalb den Lohn gedrückt. Heutzutage dürfe man im Sinne protestantischer Ethik aber nicht mehr faul sein, so Streeck. Dann lächelt er kurz und blickt ins Publikum: &bdquo;In OWL schon gar nicht“. Die Lohnerhöhung sei längst ein Anreiz, noch mehr zu arbeiten und das Geld in den Konsum, &bdquo;zum Beispiel einen neuen SUV“, zu stecken. Ein Recht auf Faulheit fordert Streeck indes nicht. Es geht ihm eher um Genügsamkeit. "Digitale Enteignung" Der Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaftler sowie Philosoph Joseph Vogl von der Humboldt-Universität Berlin argumentiert ähnlich, beschreibt Kapitalismus als System der Verknappung von Ressourcen und spricht mit Blick auf die Plattformökonomien von &bdquo;digitaler Enteignung“. Firmen wie Airbnb oder Uber besäßen kein einziges Hotel oder Auto, beherrschten aber den Markt. Diese Plattformen führten zu einer &bdquo;Erosion von Solidarisierungen“ und zu einer &bdquo;Kultur der Verantwortungslosigkeit“: &bdquo;Das ist so, als wenn Monsanto nicht mehr für Glyphosat verantwortlich wäre.“ Kapital lebe und überlebe nur unter der Bedingung, dass er neue Ressourcen erschließe. In der Entfesslung des Geldes erkennt Vogl eine &bdquo;monetative vierte Gewalt“, was sich besonders in den Maßnahmen der Eurogruppe gegenüber Griechenland gezeigt habe. Die Eurogruppe sei &bdquo;ein informeller Haufen“, so Vogl, der trotzdem souveräne Macht ausübe. Inzwischen lebe das gegenwärtige Wirtschaftssystem von der Entfesselung der Laster, so Vogl: &bdquo;Die ehemaligen Todsünden sind produktiv geworden.“ Das führe unweigerlich zu einer &bdquo;Verschlechterung des Menschensubstrats und wir sind das Ergebnis“. "Aus Scheiße Gold machen" Armin Nassehi, Soziologe von der Ludwig-Maximilians-Universität München und an der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, erkennt eine dauernde Überforderung der Gesellschaft durch die Komplexität der Krisen und nennt es: Unbehagen. Die Gesellschaft habe eigentlich fast alle Mittel in der Hand, die Probleme dieser Welt zu lösen, sei aber nicht in der Lage, das zu tun. Nassehi knüpft an die Gedankenwelt des Bielefelder Soziologen Niklas Luhmann an, formuliert aber eine eigene Kapitalismuskritik mit Stopp-Regeln fürs Kapital. Weil Kapital heute keinen Ort mehr habe, sei es nicht kontrollierbar. Daraus entstehe Unbehagen, zugleich aber auch Neues, ein Ort für Kreativität, formuliert Nassehi es positiv: &bdquo;Wir können aus Scheiße Gold machen.“ Die Folge davon sei allerdings, dass Geld in Subsysteme wie die Wissenschaft eindringe, &bdquo;wo es nichts zu suchen hat“, argumentierte Wolfgang Streeck mit systemtheoretischem Zungenschlag. Heutzutage sei es möglich, Forschung so zu finanzieren, dass das passende Ergebnis herauskomme. Wissenschaft sei dadurch tatsächlich zur Produktivkraft &bdquo;für das ganz große Geld“ geworden. Die Machtübernahme des Subsystems sei eine vorhersehbare Konsequenz. Streeck fordert, die Komplexität der Verhältnisse zu vereinfachen, um Entscheidungen wieder zu ermöglichen. Die Europäische Union dagegen sieht Streeck nicht als übernationale Problemlösung, sondern als Demokratieproblem. Politik ist in seinem Verständnis eine Gegenmacht. Streeck: &bdquo;Ich sehe mich als unsterblicher Sozialdemokrat.“ Zugleich sagt der ehemalige Hochschullehrer aber auch: &bdquo;Ich bin kein Rezeptverkäufer.“ "Gefahren sind Risiken" Nassehi bleibt dennoch positiver gestimmt. Der Kapitalismus von heute sei ein Ort, an dem etwas Neues passiert. Die Akteure handelten ökonomisch, nicht mehr kapitalistisch. Es gebe neue Formen des Wirtschaftens, zum Beispiel Genossenschaften. &bdquo;Das ist vielleicht genauso naiv, wie daran zu glauben, dass Staaten Macht ausüben können, um zu regulieren.“ Die Gefahren eines modernen Raubtierkapitalismus leugnet Nassehi nicht, beschreibt die Gefahren aber als Risiken, mit denen Gesellschaften umgehen können. Die Lösung der dauernden Überforderung der Gesellschaft sieht der Systemtheoretiker in der Politik, sie müsse &bdquo;Anspruchsberechtigungen für Solidarität herstellen“. Das, so Nassehi, sei die Idee von Wohlfahrtsstaaten. https://www.nw.de/lokal/kreis_minden_luebbecke/bad_oeynhausen/23062183_Literaturfestivals-Poetische-Quellen-Wer-liest-erweitert-seine-Welt.html https://www.nw.de/lokal/kreis_minden_luebbecke/bad_oeynhausen/23078378_Auftakt-der-Poetischen-Quellen.html

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