Eindrücke aus Frankreich: "Bleibt zuhause - aber bitte draußen"

Bad Oeynhausen/Lyon. Beate Langenbruch lebt seit 24 Jahren in Frankreich. Sie hat dort studiert, ihren Doktor gemacht und ist mittlerweile Dozentin für Mittelalterliteratur an der Universität von Lyon. Mit ihrem dreijährigen Sohn wohnt sie in der 2.000 Jahre alten geschichtsträchtigen Stadt in der Rhône-Alpes-Region. Für die NW berichtet sie über die Situation im Nachbarland. "Die Reaktion auf die dritte Corona-Welle nimmt in Frankreich bizarre Formen an. Die Beschränkungen von Lockdown zwei Ende Oktober waren eigentlich nie vollständig zurückgenommen worden. Zwar durften am 15. Dezember die Geschäfte wieder pünktlich zum Weihnachtsgeschäft aufmachen, aber die frankreichweite Sperrstunde von 18 bis 6 Uhr und die von fast allen Polizeipräfekturen angeordnete Maskenpflicht im öffentlichen Raum blieben in Kraft. Bereits Ende Januar, Anfang Februar machten jedoch die ersten Städte in der Grenzregion Grand-Est (Lothringen und Elsass), zum Beispiel Thionville, bekannt, dass sie aufgrund der stark erhöhten Inzidenzwerte und der zunehmenden Verbreitung der neuen Virusvarianten gerne einen lokalen Lockdown verhängen würden, aber Gesundheitsminister Olivier Véran gestand dies nicht zu. Erst als im mediterranen Nizza und im nördlichen Pas-de-Calais die Situation erneut kritisch wurde, reagierte dann die Regierung mit zunächst regional beschränkten Maßnahmen. 35.000 Infektionen pro Tag Angesichts der im Vergleich zu Deutschland wirklich dramatischeren Zahlen war ich gelinde gesagt schockiert, dass man hüben bei weniger als 10.000 neuen Krankheitsfällen pro Tag logischerweise im bundesweiten Lockdown war, während drüben in Frankreich der gleiche Wert auf über 35.000 steigen konnte, ohne dass irgendetwas beschlossen wurde. Die lasche Haltung der Regierung unter Premier Jean Castex lag wohl darin begründet, dass der moralische Zustand der Bevölkerung nach einem Jahr Corona desolat ist und immer noch krampfhaft versucht wird, allein schon das Wort Lockdown, so weit es nur geht, zu vermeiden, um keine Proteste zu provozieren. Dabei fragte sich eine Mehrheit von Bürgern schon lange, warum man nicht endlich dem Rat des Conseil scientifique (Wissenschaftsrates) folgte, und endlich die Schotten auf nationalem Niveau dicht machte. Zwar gibt es immer noch Randgruppen, die sich, wie kürzlich in Marseille, zu Tausenden ungeschützt und ungeachtet jeder Maskenpflicht zu einem Massenkarneval zusammenfinden, aber dieses unverantwortliche Treiben wurde allgemein aufs Schärfste kritisiert. Seitdem letzte Woche jedoch die Inzidenzwerte auch in Paris und der umliegenden Ile-de-France auf über 400 angestiegen waren, konnte die Regierung nicht anders, als endlich härtere Maßnahmen zu verhängen, die zunächst neben der Hauptstadt und und der umliegenden Ile-de-France auch die ehemaligen Haute-Normandie und die Alpes-Maritimes im äußersten Süden betrafen, dann die Region von Lyon, und schließlich seit Karsamstag auf ganz Frankreich ausgeweitet worden sind. Schulen bis Ende April geschlossen Der "Lockdown" ist allerdings mehr als light, denn nach den vergangenen zwei Erfahrungen dürfen die Bürger sich jetzt tagsüber frei im Umkreis von zehn Kilometern vom Domizil bewegen oder im Umkreis von sogar 30 Kilometern Einkäufe machen. Es reicht eine Stromrechnung als Nachweis des Wohnsitzes. Im gleichen Atemzug wurde die Sperrstunde von 18 auf 19 Uhr frankreichweit paradoxerweise noch verändert. Homeoffice an vier Tagen pro Woche wird angeraten und jetzt sind, letzter politischer Dammbruch, auch Kitas, Grund- und weiterführende Schulen geschlossen worden: In einigen Gegenden, wie dem Pariser Departement Seine-Saint-Denis, waren die Inzidenzwerte einiger Bildungsanstalten auf über 1.000 gestiegen. Alle Schulen Frankreichs (aber nicht die Universitäten) machen in der Woche nach Ostern Homeschooling und werden in den zwei darauffolgenden Wochen synchron in die Ferien geschickt. Natürlich wäre Frankreich nicht Frankreich, wenn nicht wie schon an Weihnachten Ausnahmeregelungen für die Ostertage gelten würden. Gottesdienste zum Beispiel fanden statt, auch wenn dabei strenge Hygiene- und Abstandsregeln eingehalten werden mussten. Zum Festgottesdienst reservierte man in vielen Gemeinden seinen Sitzplatz übers Internet, damit die angegebenen Maximalkapazitäten nicht überschritten wurden. Die Regierung ließ auch bekannt geben, dass die Polizei frühestens am Dienstag nach Ostern die Einhaltung der Mobilitätsbeschränkung kontrollieren werde, um den Großstädtern noch eine letzte Gelegenheit zur Stadtflucht zu geben. Schlagartig haben sich seit Macrons Ankündigungen am Mittwochabend die Metropolen Paris und Lyon geleert - also bitte alle noch mal mischen, bevor es ernst wird. Frankreich will bis Juli 30 Millionen Menschen impfen Darüber hinaus ist die klare Ansage an die Bevölkerung: Wenn Ihr Euch schon treffen müsst, dann bitte draußen an der frischen Luft. Letztere wird allerdings auch in höchsten Kreisen langsam dünn: Mit den jüngst erkrankten Roselyne Bachelot (Kultur) und Elisabeth Borne (Arbeit) lagen letzte Woche zwei Ministerinnen mit Covid-19 sogar im Krankenhaus. Neben Präsident Emmanuel Macron (im Dezember wie Ehefrau Brigitte positiv getestet) haben also inzwischen knapp zehn Mitglieder der Exekutive Corona am eigenen Leib erfahren. Premierminister Jean Castex, der eigentlich warten wollte, bis er altersgemäß an der Reihe war, hatte sich dann doch so schnell wie möglich impfen lassen, um mit gutem Beispiel voranzugehen. Es wird höchste Zeit. Allein am Karfreitag infizierten sich 46.700 Franzosen mit dem Coronavirus; bis heute starben an ihm 96.500 Bürger in Krankenhäusern und Altenheimen. Bis Mitte April sollen zehn Millionen Franzosen, bis Mitte Mai 20 Millionen und bis zum Sommer 30 Millionen geimpft werden. Die Politik verkündet vollmundig, zum Nationalfeiertag am 14. Juli könnte die Herdenimmunität erreicht sein. Na, klingt das nicht ein bisschen wie anno 1986, als die Regierung erklärte, die Tschernobylwolke habe vor der französischen Grenze haltgemacht...?"

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