Bewohner unter Dauerverschluss: Polizei erhebt Vorwürfe gegen Wittekindshof

Bad Oeynhausen/Bielefeld. Der Vorsitzende Richter machte aus seiner Erschütterung keinen Hehl: Das Bielefelder Landgericht muss derzeit in einem Sicherungsverfahren darüber befinden, ob ein 24 Jahre alter Bewohner des Wittekindshofs dauerhaft in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht werden muss. Was auf den ersten Blick nach landgerichtlichem Alltagsgeschäft klingt, erhielt nun jedoch im Licht neuerer Erkenntnisse der Kammer eine nicht unerhebliche Brisanz - und könnte dem Fall möglicherweise eine ungeahnte Wendung geben. Sören O. (Name geändert) leidet unter einer mittelgradigen Intelligenzminderung mit einer Störung der Impulskontrolle. Der behinderte 24 Jahre alte Mann lebt seit mehreren Jahren im Wittekindshof. Hier fiel er in der Vergangenheit immer wieder durch auto- und fremdaggressives Verhalten auf, weshalb die Mitarbeiter der Einrichtung ihn oftmals auf einer Matte fixierten. Einer dieser Tage, an denen Sören O. eine massive psychische Krise erlebte, bildet den Hintergrund für das Sicherungsverfahren, das nun vor dem Bielefelder Landgericht verhandelt wird. Akte des Klienten umfasst 35.000 Einträge Die Bielefelder Staatsanwaltschaft geht in ihrer Antragsschrift von folgendem Geschehen aus: Als Sören O. am 2. Dezember des vergangenen Jahrs um 10.23 Uhr auf einer Matte fixiert wurde, beleidigte er das anwesende Personal mit Obszönitäten, drohte, er werde die Mitarbeiter töten. Nach dem Ende der Fixierung versuchte er gegen 16 Uhr, eine Mitarbeiterin unter Drohungen und Beleidigungen zu treten. Als etwa eine halbe Stunde später eine Pflegerin die Medikamentenklappe in der Tür zum Zimmer des Mannes öffnete, versuchte dieser, die Frau mit der Scherbe eines Medikamentenbechers zu treffen. Abends trat er abermals nach einer Mitarbeiterin und drohte dieser mit dem Tod. In der Verhandlung vor der XXI. Großen Strafkammer des Bielefelder Landgerichts erläuterte der Vorsitzende Richter Kai Niesten-Dietrich, dass die Kammer erst kürzlich Kenntnis von Ermittlungen erhalten habe, die sich gegen Mitarbeiter des Wittekindshofs richten. Er verlas einen Bericht der Polizei, in dem es hieß, dass der Wittekindshof ganz offenbar nicht in der Lage sei, mit der Fremd- und Selbstgefährdung von Sören O. umzugehen. Mittlerweile seien zwei Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes engagiert worden. Die Akte des Klienten in der Einrichtung umfasse 35.000 Einträge. Aus diesen gehe hervor, dass O. in der gesamten Zeit quasi unter Dauerverschluss gestanden habe oder aber bis zu mehrere Stunden am Stück fixiert gewesen sei. Der schwerbehinderte Mann sei sozial isoliert, was möglicherweise sein Verhalten erkläre, bei dem es sich um das Heischen nach Aufmerksamkeit handeln könne. "Es scheint als würde O. absichtlich gereizt" Doch der in der Verhandlung verlesene Bericht enthielt noch weitere brisante Bemerkungen: So sei es, teilte die Polizei mit, am 25. November zu einem Vorfall gekommen, in dessen Verlauf ein Mitarbeiter auf O. eingetreten haben soll. Der Sicherheitsdienst habe den Mann von dem Klienten herunterziehen müssen. "Es scheint", hieß es in dem Bericht, als werde O. "aktuell absichtlich gereizt, um Übergriffe zu provozieren - der Wittekindshof will ihn loswerden." Der übergriffige Mitarbeiter soll bei einer Gelegenheit angegeben haben, er habe so etwas ohne Konsequenzen schon häufiger getan, O. glaube ohnehin niemand. Ein als Zeuge geladener Polizeibeamter bestätigte den zuvor verlesenen Bericht in seiner Vernehmung: Im Oktober 2019 habe es eine Durchsuchung in der Einrichtung gegeben, bei der zahlreiche Datenträger sichergestellt worden seien. Die Auswertung und Ermittlungen dauerten noch an. Doch sei deutlich geworden, dass O. äußerst reizarm unter Dauerverschluss gelebt habe, ihm sei jedwede Beschäftigung weitgehend entzogen worden. "Das ist auch bei seinem Grad der Behinderung schwer zu ertragen. Er ist traurigerweise über etwa fünf Jahre komplett vereinsamt", sagte der Beamte. Auch sei einmal mit CS-Gas gegen O. vorgegangen worden - wer gesprüht habe, sei in der Akte jedoch nicht dokumentiert. Die Vernehmungen der Ärzte der Einrichtung seien nicht immer erhellend, da diese "uns gegenüber eher das Interesse des Wittekindshofs vertreten als die der Klienten." Die causa O. sei mittlerweile auch dem Landesministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales bekannt, sagte der Zeuge. "Bei aller Neutralität: Ich war beim ersten Lesen entsetzt ob der ungeheuren Vorwürfe", merkte Richter Niesten-Dietrich in der Verhandlung an. Der Prozess wird am 21. Dezember fortgesetzt.

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