Abschied nach 35 Jahren

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Bekannter Detmolder Staatsanwalt: Diese Fälle gingen Ralf Vetter besonders nah

Nach 35 Jahren geht der Oberstaatsanwalt in den Ruhestand. Was denkt Ralf Vetter nach so vielen Jahren über das Justizsystem? Im Interview blickt er zurück.

An seinem vorletzten regulären Arbeitstag lädt Oberstaatsanwalt Ralf Vetter zum Abschieds-Interview. Bei der Staatsanwaltschaft Detmold war der 66-Jährige vor allem für die Verfolgung politischer Straftaten zuständig. | © Janet König

28.07.2025 | 28.07.2025, 07:55

Detmold. Manche Büros bergen Geheimnisse - selbst das von Oberstaatsanwalt Ralf Vetter. Der räumt nach Jahren ein, das Porträt von Helene Fischer hänge nur genau an dieser Stelle der Wand, um ein Loch zu kaschieren. Das Loch existiert tatsächlich, es gibt aber mehr zu entdecken. Auf der Fensterbank stehen Porzellanfiguren des Komiker-Duos Stan Laurel und Oliver Hardy - bekannt als „Dick und Doof“, die seine Frau einst aus der heimischen Deko in Delbrück verbannt hat. Vetter mag alte Filme - und Autos. Das verrät ein Pokal, den er bei einer Oldtimer-Rallye gewonnen hat.

Hinter seinem Schreibtisch, direkt neben dem großen Aktenschrank mit Strafgesetzbüchern, hat Ralf Vetter schon vor Jahren zwei signierte Filmplakate von Martin Held und Walter Giller angebracht. Beide sind Hauptdarsteller des Filmklassikers „Rosen für den Staatsanwalt“ aus dem Jahr 1959. Eine bissige Satire, die sich mit der juristischen Aufarbeitung der deutschen Nachkriegszeit auseinandersetzt.

Der Film passt ins Gesamtbild seiner Karriere. Ralf Vetter hat seit dem Jahr 2009 als Oberstaatsanwalt vor allem politische Straftaten bei der Staatsanwaltschaft Detmold bearbeitet. Bis vor zwei Jahren war er zusätzlich Pressedezernent und für Medien bei größeren Ereignissen sogar teils auf dem Laufband erreichbar. Davor bearbeitete der heute 66-Jährige bei der Staatsanwaltschaft Paderborn vorrangig Kapitalsachen - also Tötungsdelikte.

Das Komikerduo Laurel und Hardy - in Deutschland bekannt als "Dick und Doof" steht im Büro des Oberstaatsanwaltes auf der Fensterbank. - © Janet König
Das Komikerduo Laurel und Hardy - in Deutschland bekannt als "Dick und Doof" steht im Büro des Oberstaatsanwaltes auf der Fensterbank. | © Janet König

Nach 35 Dienstjahren geht Vetter nun in den Ruhestand. Er hätte gern noch ein paar Jährchen länger gemacht, gibt er zu. Da das Ministerium aber den Nachwuchs fördern wolle, sei sein Antrag abgelehnt worden. Dass sein Büro bald leer sein wird, scheint in dem Moment surreal. Im Interview blickt er auf seine Berufung zurück und lässt keine Frage unbeantwortet.

Herr Vetter, ich war neulich zufällig als Berichterstatterin bei dem letzten Plädoyer Ihrer Karriere anwesend. Was ist Ihnen dabei durch den Kopf gegangen?

Ralf Vetter: Das ist mir tatsächlich erst nach der Sitzung bewusst geworden, dass das jetzt die letzte Sache war. Also in dem Moment habe ich mich damit nicht beschäftigt.

Gibt es denn Plädoyers, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben sind?

Das sind wahrscheinlich eher die, wo ich mir denke, das hättest du besser oder anders machen können. Ich kann mich erinnern, dass ich mich mal besonders auf ein Plädoyer vorbereiten wollte und es ausformuliert habe, da war ich am Ende gar nicht zufrieden mit. Das habe ich auch nie wieder gemacht - das klingt abgelesen. Bei längeren Sachen macht man sich Stichpunkte, damit man nichts vergisst, formuliert vielleicht mal einzelne Sätze aus. 99,9 Prozent der Plädoyers macht man eigentlich aus dem Stegreif.

Sie werden im Laufe der vergangenen 35 Jahre Tausende gehalten haben...

Ja, das geht irgendwann in Routine über. Man merkt sich das meiste, das ist dann aber auch ruckzuck wieder weg. Wenn ich an einem Tag mehrere Sachen beim Strafrichter habe und es um 9 Uhr losgeht, kann es sein, dass ich um 13.30 Uhr schon nicht mehr weiß, was ich bei der Sitzung am Morgen gesagt habe.

Erinnern Sie sich denn noch an Ihren größten Fall?

Einen größten Fall habe ich eigentlich nicht. Auch an die vielen Sachen, wo wir als Justiz und Polizei gut gearbeitet haben und das Ergebnis stimmte, werde ich wahrscheinlich nicht ewig zurückdenken. Mir hängen eher die Kapitaldelikte nach, die nicht aufgeklärt worden sind. Da könnte ich Ihnen ad hoc 10 nennen - zum Beispiel der Fall Frauke Liebs. Eine Frau verschwindet zur Fußball-WM 2006 und wird Wochen später tot in der Egge aufgefunden. Bis heute ist der Fall ungeklärt. Da denkt man häufiger dran, als wenn der Täter gefasst und verurteilt worden ist. An die Namen von verurteilten Tätern kann ich mich schon gar nicht mehr erinnern - dann eher an die Namen der Opfer.

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Spannend, man hört ja sonst eher den Vorwurf, vor Gericht spielen die Opfer nur eine Nebenrolle.

Das beklagen Opfer und Hinterbliebene häufig, weil es in der Hauptverhandlung vor allem um den Täter geht und wie schlecht es ihm in der Jugend gegangen ist. Der Eindruck dringt nach außen. Aber das ist nicht das, womit sich die Juristen und vor allem die Staatsanwälte beschäftigen. Die sind mit den Gedanken schon sehr bei den Opfern, ich glaube, dass es den Kollegen da nicht anders geht.

Was werden Sie niemals vergessen?

Was für mich total spannend war und was ich sicher nie vergessen werde, war der Detmolder Auschwitz-Prozess. Ich war da zwar nur zweiter Sitzungsvertreter als Back-up, aber das Verfahren war natürlich historisch bedeutsam und für einen Juristen und Staatsanwalt wahnsinnig interessant. Für die Erfahrung, an der Hauptverhandlung als Anklagevertreter beteiligt gewesen zu sein, bin ich wirklich dankbar.

Zu den größten Kriminalfällen aus jüngster lippischer Vergangenheit zählt der Missbrauchsfall Lügde, da waren Sie als Pressesprecher gefordert. Ist das kein Fall, der bei Ihnen hängen bleibt?

Da habe ich ja nur am Rand in Sachen Jugendamt ermittelt. Dass die Täter verurteilt wurden, ist vorrangig das Verdienst der beiden Kolleginnen gewesen. Die Mitglieder des Untersuchungsausschusses waren auch fassungslos, dass ich mich daher an viele Details nicht mehr erinnere. Was Lügde angeht, war sicherlich das Presseaufkommen besonders herausfordernd, wir hatten teils 20 Anfragen am Tag und es kam durchaus die Frage von der Generalstaatsanwaltschaft auf, ob wir Hilfe brauchen. Daher war es damals die richtige Entscheidung, alles irgendwann gebündelt über das Polizeipräsidium Bielefeld laufen zu lassen. Was Pressesachen angeht, werde ich den Fall wohl nie vergessen.

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Oberstaatsanwalt Ralf Vetter spricht im Jahr 2019 über den Fall Lügde. - © Jannik Stodiek
Oberstaatsanwalt Ralf Vetter spricht im Jahr 2019 über den Fall Lügde. | © Jannik Stodiek

Die Frage muss ich stellen: Wie oft werden Sie noch wach und fragen sich, wo der Koffer abgeblieben ist?

Der hat mir keine schlaflosen Nächte bereitet, weil er für uns nicht so eine Bedeutung hatte wie für die Öffentlichkeit, weil wir sicher sind, dass auf den 155 CDs nichts Strafrelevantes drauf war. Dass ein Polizeibeamter den absichtlich hat verschwinden lassen, halte ich für Quatsch. Meine Lieblingstheorie ist eher, dass ihn irgendwer versehentlich weggeräumt hat und sich dann nicht mehr getraut hat, das zuzugeben. Wenn er mit anderen Asservaten vertauscht worden wäre, hätten wir ihn irgendwann finden müssen. Ich habe aber tatsächlich schon Ewigkeiten nicht mehr dran gedacht. Das passiert nur gelegentlich, wenn ich mal irgendwo einen Alukoffer herumstehen sehe.

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Es sind also besonders Kapitalsachen, die Ihnen in Erinnerung bleiben. In Detmold haben Sie sich vorrangig um die Verfolgung politischer Straftaten gekümmert. Was macht mehr Spaß?

Ich glaube, für ein Großteil der Staatsanwälte sind Kapitalsachen das Ziel, das macht in dem Sinne mehr Spaß, weil es eine Befriedigung bringt, wenn jemand am Ende vor Gericht steht, der schweres Unrecht begangen hat und man selbst dafür gesorgt hat, dass es dafür Konsequenzen gibt und eine ordentliche Strafe herauskommt. Das ist ein richtiges Erfolgserlebnis. Wenn jemand verurteilt wird, der schwarz mit der Bahn gefahren ist oder ein kleiner Ladendieb ist, dann ist das nicht sinnstiftend. Dann macht man das, weil es strafbar ist und sich jeder an gewisse Regeln halten muss, da sonst Chaos ausbricht.

Gab es denn Momente, wo Sie an der Justiz gezweifelt haben?

Nein, also das System funktioniert. Es stößt an manchen Ecken an seine Grenzen. Wirklich schwierig ist es mit Betrugstaten im Internet. Die sind unheimlich schwer aufzuklären, häufig, weil die Täter auch aus dem Ausland agieren, die die Geldflüsse verschleiern über Konten im Ausland. Da ist es schwer, hinterherzukommen und dem Geld zu folgen - und irgendwann verliert sich die Spur. Das ist eine Sache, wo Polizei und Justiz mehr machen müssten. Häufig werden hier die Schwächsten geschädigt, also häufig auch Ältere, die die Tricks nicht unbedingt durchschauen und ihre ganzen Ersparnisse verlieren. Diese Entwicklung müssen wir besser in den Griff bekommen.

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Und wie?

Man muss sich bewusst machen: Das trägt so ein Mensch dann bis an sein Lebensende wahrscheinlich mit, weil er da ja praktisch um mehr oder weniger alles gebracht worden ist. Und da meine ich, müsste viel mehr Manpower reingesteckt werden. Ein bisschen zu panisch reagieren wir im Internet dagegen auf alles, was unter dem Begriff „Hate Speech“ läuft. Das meiste wäre durchaus vermeidbar, wenn sich die Leute selber ein bisschen vorsichtiger benehmen würden.

Sie meinen, Menschen, die im Netz beleidigt werden, reagieren oft über?

Na ja, klar ist das vielleicht nicht schön, wenn ich im Internet beleidigt werde, aber da wird jetzt schon sehr viel gemacht, auch auf einer politischen Ebene, was neue Straftatbestände angeht. Politiker wie Angela Merkel, Olaf Scholz und Friedrich Merz stehen da drüber und stellen keine Strafanzeige. Das weiß ich, weil ich sie schon alle angeschrieben habe, wenn irgendjemand anderes das angezeigt hat.

Gerade im Internet ist das Problem mit rechter Hetze ja groß. Was sagen Sie zu dem Vorwurf, dass die Justiz auf dem rechten Auge blind ist?

Generell ist uns das völlig egal, ob Straftaten von der linken oder rechten Seite kommen. Rein statistisch ist der Vorwurf Blödsinn, weil wir viel mehr rechte Strafsachen als aus anderen Bereichen verfolgen. Das liegt aber auch am Anzeigeverhalten. Wenn irgendwo ein Hakenkreuz an die Wand gesprüht oder in die Schulbank geritzt wird, dann können wir sicher sein, davon zu erfahren. Da stecken selten wirklich politisch motivierte Taten hinter, daher sind die Statistiken völlig unbrauchbar, um festzustellen, ob es jetzt eine größere Gefahr von links oder rechts gibt.

Heißt das, wir haben generell viel weniger politische Straftaten, als angezeigt werden?

Das Anzeigeverhalten ist auf jeden Fall sensibler geworden. Das ist genau so wie bei Sexualstraftaten und Kindesmissbrauch. Der Lügde-Effekt hängt hier noch nach, was nicht bedeutet, dass es plötzlich mehr Delikte in diesem Bereich gibt, man bekommt nur mehr mit. Wenn wir uns wirklich nur auf tatsächlich politisch motivierten Straftaten beschränken würden, dann haben wir, glaube ich, nicht so viele. Zum einen liegt das daran, dass Menschen, die solche Taten begehen, in der Regel kein Interesse haben, sich erwischen zu lassen oder ich vermute, dass es politisch motiviert ist, weiß aber nicht, aus welcher Ecke das kommt.

Zum Beispiel?

Wenn eine Synagoge angegriffen werden würde, dann kann ich ohne Täter nicht wissen, ob das jetzt eine rechtsradikale oder islamistische Straftat ist. Letztendlich kann ich bei den politischen Straftaten nur eine Einordnung treffen, wenn ich den Täter habe und ihn anhand seiner politischen Ansichten in eine gewisse Schublade einordnen kann. Dann sieht man, dass wir in Lippe gar nicht so wahnsinnig viele politische Straftaten haben.

Da spricht auch die Erfahrung aus 35 Jahren. Wie hat Sie der Beruf als Mensch verändert?

Das hat keine 35 Jahre gebraucht, aber man wird in diesem Beruf schnell misstrauischer - so geht es sicher auch Polizisten. Das ist aber auch nicht verkehrt, allein durch Misstrauen kann man Straftaten verhindern. Bei vielen Betrugsdelikten denke ich oft, das hätte mir nicht passieren können.

Und was braucht man, um ein guter Staatsanwalt/eine gute Staatsanwältin zu sein?

Man braucht eine gewisse Empathie und ein Einfühlungsvermögen, um sich in Täter und Opfer hineinversetzen zu können. Abseits von allem fachlichen Wissen ist es aus meiner Sicht genauso wichtig, ein Gerechtigkeitsempfinden zu haben, dass man sich auch wirklich für Gerechtigkeit einsetzen will und auch erkennt, was gerecht ist. Wir nennen das, jemand verfügt über „ein gutes Judiz“ (Anmerkung der Redaktion: juristisches Urteilsvermögen). Das schätzen wir an jungen Staatsanwälten sehr, wenn die wirklich gut einschätzen können, was nicht in Ordnung ist und auch, was das wert ist - also dass ich zum Beispiel einen Ladendieb nicht lebenslang wegsperren kann.

Sie hätten ja gerne noch weitergemacht. Was werden Sie am meisten vermissen?

Tatsächlich hätte ich gerne noch ein paar Dinge weiter mitgestaltet. Die Einführung der E-Akte im Strafrecht finde ich beispielsweise sehr spannend. Und eigentlich fühle ich mich noch zu jung, um aufzuhören. Ich habe viele Bekannte, die sagen, freu dich doch, dass du endlich in den Ruhestand gehst, dann kannst du endlich machen, was dir Spaß machst. Dann sage ich immer: Das mache ich doch. Das habe ich 35 Jahre lang gemacht.

INFORMATION


Zur Person

  • Ralf Vetter (66) kommt gebürtig aus dem Ruhrgebiet (Bergkamen), sein Vater war Bergmann.
  • Mit dem Jura-Studium legte Vetter nur los, um Steuerberater zu werden. Seine berufliche Laufbahn als Staatsanwalt begann bei der Staatsanwaltschaft Dortmund, danach ging es nach Paderborn.
  • Seit 2009 ist Ralf Vetter als Oberstaatsanwalt bei der hiesigen Ermittlungsbehörde in Detmold, seit 2012 als stellvertretender Behördenleiter.
  • Vetter lebt mit seiner Frau in Delbrück. Er ist Fan von Borussia Dortmund.