Stadtgeschichte

Wenn Kinder an Haustüren singen

Manche schöne Tradition hat eine bittere Vergangenheit. Aus Not wurde früher zu Neujahr oder Fastnacht gesungen und gebettelt. Viele Oerlinghauser lebten in ärmlichen Verhältnissen.

Oerlinghauser Kinder um 1911. Das frühe Bild aus der Gemeinde zeigt die Gruppe an der Dorfpumpe am Ende der Hauptstraße, dort wo die Niedernstraße rechts abbiegt. | © Repros: Horst Biere / Quelle: Stadtarchiv

Horst Biere
28.12.2024 | 28.12.2024, 00:00

Oerlinghausen. „Gib uns Süßes, sonst gibt’s Saures“ heißt es heutzutage, wenn Kinder zu Halloween hübsch kostümiert von Haus zu Haus ziehen. Eine vorweihnachtliche Tradition war in früheren Jahren das „Klösken-Singen“ am 6. Dezember, also am Nikolaustag. Viele ältere Menschen werden sich daran erinnern. Höhepunkte der beliebten Sammelaktionen mit Nikolausmasken bildeten in Oerlinghausen stets der Besuch der Schlachterei Schmidt gegenüber der Apotheke, wo es leckere Würstchen gab und das Spielwarengeschäft Meierjohann, in dem das kinderfreundliche Inhaberehepaar immer eine Kleinigkeit für den Gabensack überreichte.

Eine noch viel ältere Geschichte besitzt das Singen am Neujahrsmorgen, schreibt der Oerlinghauser Chronist August Reuter. „Die Kinder ziehen mit ihrer Tasche von Haus zu Haus und singen auf Plattdeutsch: „Preost Nuijohr, Gesundheut, Langet Lieben – Müt mui’n düden Krenjel gieben“. (Prost Neujahr, Gesundheit, langes Leben – Du musst mir einen kleinen Kringel geben). Darauf erhielten die Kinder zumeist einen Neujahrskringel oder einige Äpfel und Nüsse. Und geht man noch weiter zurück in die Vergangenheit, so stößt man auf das Fastnachtssingen, an dem die Kinder mit einem degenartigen Holzstab „Spett“ von Haus zu Haus zogen und sangen „Fast-, Fast-, Fastnacht – Chiebt mui wat up muinen Spett – Anner Johr Schwuine fett – Unnern chreunen Eckernbume, werdt‘t de Leuwe Chott belauhnen“ (Gebt mir was auf meinen Spett, dann werden im nächsten Jahr die Schweine fett – Unterm grünen Eichenbaum, wird’s der liebe Gott belohnen).

Doch hinter den Streifzügen der Kinder durchs Bergdorf stand in früheren Zeiten oft bittere Armut und ihr Chorgesang war nichts anderes als blanke Bettelei. In der kalten Winterzeit waren die Vorräte der Familien weitgehend aufgebraucht und so stellte das Singen und Betteln im Dorf und auf den Bauernhöfen noch eine kleine zusätzliche Versorgung dar. „Die wirtschaftliche Not war weit verbreitet und die Lebensverhältnisse der unteren Schichten blieben prekär“, berichtet der Historiker Jürgen Hartmann in der Zeitschrift Rosenland über die Zeit um 1900.

„Gehen Drei, dann kommen Vier wieder“

Zusätzlich kamen besonders zur kalten Jahreszeit auch Bettler aus dem kargen Senneraum nach Oerlinghausen und in die Nachbarorte. Die Lippische Landeszeitung schrieb schon 1879: „Zur Fastnacht wird die hiesige Gegend überschwemmt. Frauen und Kinder durchziehen die Dörfer und Gehöfte vom Morgen bis zum Abend. Gehen Drei, dann kommen Vier wieder. Sie dringen mit einer solchen Dreistigkeit und Frechheit ein, dass man meist, um sich von solchen Gästen zu befreien, ihnen eine Gabe reicht.“

Zwar verbesserten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Lebensverhältnisse in Oerlinghausen spürbar, denn durch die aufkommende Industrialisierung im Dorf und in der Nachbarstadt Bielefeld erhielten immer mehr Menschen einen Arbeitsplatz. Doch das Leben der meisten Menschen war immer noch sehr hart.

„Bereits geringfügige Steigerungen bei den Lebensmittelpreisen, wie die allgemeinen Brotverteuerungen im Frühjahr und Herbst 1901, konnten zu existenzbedrohenden Situationen führen“, schreibt Hartmann. „Darum beschloss der Dorfausschuss im Sommer 1912, als die Fleischpreise drastisch anstiegen, „wöchentlich einmal Fische kommen zu lassen und diese zu Selbstkostenpreisen an die Bewohner zu verkaufen.“ Die evangelische Kirchengemeinde bemühte sich regelmäßig mit kleinen Spenden, den Armen im Ort zu helfen. Der Vaterländische Frauenverein richtete alljährlich eine Weihnachtsfeier mit Gaben vor allem für die in Armut lebenden Kinder aus. Mit dem 1888 errichteten Kiffe-Stift existierte sogar ein Heim für hilfsbedürftige alte Frauen und Männer in Oerlinghausen, heißt es in der Zeitschrift Rosenland.

Es gab eine Reihe von wohlhabenderen Kaufleuten und Unternehmern in der Gemeinde, doch die meisten Bewohner gehörten zur unteren Einkommensschicht – was sich auch aufs Wohnen und die hygienische und gesundheitliche Situation auswirkte. „Im Sommer 1880 meldeten die Zeitungen einen großen Flecktyphusausbruch. 1899/1900 forderte der Typhus das Leben von zwei jungen Frauen. Masern und Stickhusten grassierten um die Jahreswende 1892/93. Die Schulen mussten wiederholt vorübergehend geschlossen werden. Anschließend traten zahlreiche Fälle von Scharlach auf“, recherchierte Historiker Hartmann.

Der Würgeengel wütete in Oerlinghausen

Der „Würgeengel“, wie die Diphtherie damals bezeichnet wurde, machte 1897 fast 80 Prozent aller Erkrankungen im Amt Oerlinghausen aus. Zur gleichen Zeit nahmen auch die Fälle von Tuberkulose deutlich zu. Im 20. Jahrhundert verbesserte sich auch die medizinische Versorgung spürbar. Zwei Ärzte waren für die Dorfschaft Oerlinghausen und die nahe Umgegend zuständig. Hartmann: „Es handelte sich um Dr. Leopold Martheus (1856-1932), der seit 1885 als Kreiswund- und Armenarzt, sowie Dr. Max Meyer (1866-1941), der seit 1892 in seinem Geburtsort praktizierte. Und mit dem 1893 erbauten Mariannenstift existierte ein kleines Krankenhaus, das vom Leinenfabrikanten Carl David Weber (1824-1907) gestiftet worden war“.