
Oerlinghausen. Bürgermeister Dirk Becker erinnerte sich an seine Zeit im Stadtrat, kurz bevor er das Bundestagsmandat wahrnahm: Schon damals habe es eine Diskussion um die Stolpersteine gegeben, die geschichtsbewusste Bürger in der Bergstadt sehen wollten. Damaliges Argument, dass auch heute immer noch von Gegnern dieses weltweit größten dezentralen Mahnmals vorgebracht wird, lautet: Das Andenken an die Opfer des Nazi-Terrors werde mit Füßen getreten, man sehe in entwürdigender Weise auf die Opfer herab und begehe ein Andenken nicht auf Augenhöhe.
Immer wieder wurde um die Stolpersteine gerungen, bis ein scheinbarer Kompromiss zustande kam: 2014 veröffentlichte der Historiker Jürgen Hartmann im Auftrag der Stadt Oerlinghausen das erste Erinnerungsbuch im Internet, das an die Opfer der Nazi-Diktatur aus der Bergstadt erinnert. Seitdem wird das Buch kontinuierlich ergänzt und überarbeitet, um neue Erkenntnisse in die biografischen Skizzen der umgekommenen Frauen, Männer und Kinder aufzunehmen.
Wer liest, verbeugt sich vor den Opfern
2023 schließlich sprach sich der Stadtrat für eine Verlegung von Stolpersteinen aus. Den Argumenten der Gegner erwiderte der Künstler Gunter Demnig, der die Idee der Stolpersteine hatte, von denen es mittlerweile mehr als 100.000 gibt, dass Menschen, die die Aufschriften auf den Steinen lesen, sich vornüberbeugen müssen, was als Verbeugung vor den Opfern interpretiert werden solle.
Jetzt wurde ein weiterer Stolperstein zum Gedenken an Guiseppe la Nave in der Webereistraße vor dem Eingangstor der Firma Oetker verlegt. Während der Nazi-Diktatur war dort die Firma Carl Weber & Co ansässig.
Giuseppe la Nave war ein italienischer Zwangsarbeiter. Er gehörte zu einer Gruppe italienischer Kriegsgefangener, die als Arbeitskommando in der Weberei der Firma Carl Weber & Co. arbeiten mussten. Wie Jürgen Hartmann ausführte, wollte Hitler Rache an den ehemals verbündeten Italienern nehmen, die Mussolini im September 1943 gestürzt hatten, weshalb sie nicht als Kriegsgefangene bezeichnet wurden, die gemäß der Genfer Konvention zu behandeln waren. Italiener waren nach einer Weisung Hitlers vom 20. September 1943 als italienische Militärinternierte zu bezeichnen, sagte Hartmann. Sie hatten keinen Anspruch auf die Betreuung durch das Rote Kreuz. 600.000 italienische Soldaten wurden zur Zwangsarbeit ins Reichsgebiet verschleppt, 40.000 starben durch Gewalt, Hunger, Krankheit und Kälte. Guiseppe la Nave starb nach nur wenigen Wochen am Morgen des 25. November 1943. Er wurde 27 Jahre alt. Mit der Verlegung eines Stolpersteins für la Nave am 5. Juni vor dem Eingangstor der Firma Oetker, ehemals Carl Weber & Co., in der Webereistraße wird dieses Opfer des Nationalsozialismus gewürdigt und sichtbar gemacht.
Darüber hinaus wurden im Erinnerungsbuch die Biografien mehrerer Personen ergänzt. Das betrifft die Familie Herz ebenso wie den Mediziner Dr. Max Meyer, Hans Windmüller oder Eduard Kulemeyer. Von Kulemeyer, der Ende 1941 ins Ghetto Riga deportiert wurde, liegt nun auch ein Foto vor, das seine Erinnerung lebendig hält.
„Das Buch kann nie fertig sein“, sagte Becker, „weil immer wieder neue Informationen kommen.“ Jürgen Hartmann hob den großen Vorteil des Online-Buches hervor. „Es kommen weltweit Kontakte zustande, weil es im Netz zu finden ist.“ Kürzlich habe er eine Anfrage aus London bekommen. Dort erforscht eine junge Frau ihre Familiengeschichte und ist auf das Oerlinghauser Erinnerungsbuch gestoßen.
Die vierte Ausgabe des Erinnerungsbuches ist ab sofort auf der Homepage der Stadt Oerlinghausen abrufbar und steht damit einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung.