
Oerlinghausen. Sie gehörten zu den gutbürgerlichen Oerlinghausern am Anfang des 20. Jahrhunderts, die jüdische Familie Bornheim. Sie besaßen ein respektables Geschäfts- und Wohnhaus an der Hauptstraße 47, in dem heute der TSV Oerlinghausen ein Physiotherapiezentrum betreibt. Siegfried Bornheim war der Inhaber des Manufakturwarengeschäfts, er verkaufte neben Textilien auch Betten und Matratzen. Und er fuhr um 1930 schon ein Geschäftsauto.
Zur Familie Bornheim zählten seine Frau Frieda und seine drei Töchter Grete, Irene und Lilly. Auch Siegfried Schwester Alma wohnte mit im Haus. Im Jahre 1921 verstarb im frühen Alter von 43 Jahren Ehefrau Frieda Bornheim. Doch das Geschäft lief wie gewohnt weiter – bis die Nazis im Jahre 1933 an die Macht kamen. Nun regierte Hass und Willkür gegen Juden auch in Oerlinghausen, und Familie Bornheim wurde die Existenz immer mehr entzogen.
Historiker ermöglicht den Nachfahren besondere Einblicke
Doch die Bornheims hatten Glück im Unglück, ihnen gelang die Emigration nach Uruguay. In diesen Tagen besuchten erstmals Nachfahren der jüdischen Familie die Bergstadt. Miguel Lieber (78), Enkel von Siegfried Bornheim und sein Sohn Guillermo (49) aus der Hauptstadt Montevideo kamen nach Oerlinghausen und gingen auf Spurensuche nach ihren Vorfahren. Historiker Jürgen Hartmann, der seit Langem über jüdisches Leben in Lippe und insbesondere Oerlinghausen forscht, begleitete Miguel und Guillermo Lieber und gab ihnen außergewöhnliche Einblicke.
„Um 1860 gründete Siegfried Bornheims Großvater Scholum Bornheim ein Manufakturwarengeschäft“ beschreibt Hartmann die Entwicklung der Familie. In dritter Generation leitete Siegfried Bornheim also um 1900 das Geschäft an der Hauptstraße. „Die drei Töchter Bornheims: Grete, Irene und Lilly erhielten hier vor, während und noch nach dem Ersten Weltkrieg Religionsunterricht durch einen jüdischen Wanderlehrer aus Detmold.“
Die engsten Freunde der Töchter waren Irma Windmüller und auch deren Cousin Hans Windmüller, ebenfalls aus Oerlinghauser jüdischen Familien. 1929 stieg Lillys Mann Ernst Heimann als Teilhaber in das Geschäft ein. Er besuchte die Kunden in der Gegend mit dem Fahrrad, sein Schwiegervater nahm dafür das Auto.
Juden wurden ausgeschlossen
Siegfried Bornheim war ein geselliger Mensch. In zahlreichen Vereinen und Organisationen war er Mitglied, vor allem galt er als leidenschaftlicher Sänger. Doch ab Mitte des Jahres 1933 wurden Juden aus allen Vereinen ausgeschlossen. Siegfried musste den Männergesangverein verlassen, den Schützenverein, den Verkehrs- und Verschönerungsverein, den Textil-Gewerbeverband und auch den Schutzverband für Handel und Gewerbe, wo er von 1926 bis 1933 Vorsitzender gewesen war. Immer mehr Kunden boykottierten das Geschäft.
„Im Laufe des Sommers 1935 steigerte sich die antijüdische Hetze“, beschreibt Jürgen Hartmann die Situation. Geschäftsleute wurden diffamiert, ebenso „arische Volksgenossen“, die weiterhin Kontakte zu Juden unterhielten. Auch vor Beschimpfungen und Rempeleien auf offener Straße waren jüdische Bewohner nicht mehr sicher.
Hartmann: „Kunden wurden heimlich fotografiert und angeprangert. Die Fotos hängte man im sogenannten Stürmer-Kasten (ein Informationskasten mit der Hetzzeitschrift Der Stürmer) am Simonsplatz aus“. Am 16. August 1935 belagerten mehrere Nationalsozialisten Siegfried Bornheims Geschäft und skandierten: „Der Jude muss heraus!“ Bornheim, der kurz zuvor 70 Jahre alt geworden war, wurde daraufhin für etwa drei Tage in sogenannte Schutzhaft im Oerlinghauser Gefängnis genommen.
Pläne zur Auswanderung
Nun gab es akute Pläne zur Auswanderung bei den Bornheims. Die Töchter wie auch seine Schwester Selma aus Dannenberg machten Druck. „Uruguay war ein geeignetes Reiseziel, denn Tochter Grete Bornheim verfügte über Kontakte ins Konsulat in Hamburg“, sagt Hartmann. Der Plan gelang.
Grete Bornheim, ihr Mann und Tochter Renate machten sich 1937 auf den Weg nach Montevideo. Und Mitte 1938 verkaufte Siegfried Bornheim sein Geschäft und sein Haus. Im August 1938 verließen er sowie Ernst und Lilly Heimann die Stadt und folgten ihnen. Auch Irene und ihr Mann Otto Meinberg emigrierten nach Uruguay.

Bemerkenswertes recherchierte Jürgen Hartmann zur Ausreise: „Unter dem Frachtgut der Bornheims auf dem französischen Schiff befand sich nicht nur sein Auto, sondern auch ein Schofarhorn (ein rituelles, jüdisches Instrument aus dem Horn eines Widders) und eine Thorarolle (die Heilige Schrift der Juden) aus der Synagoge. Das Horn hatte Siegfried Bornheims Vater der Synagogengemeinde vor Jahrzehnten gestiftet. Bornheim übergab die Oerlinghauser Kultgegenstände der Gemeinde in Montevideo.
Der Neuanfang der Familie Bornheim in Uruguay war schwer, aber der Start und der Aufbau eines kleinen Geschäfts mit Textilien gelangen. Tochter Irene heiratete den deutschen Juden Willi Lieber, nachdem ihr Mann verstorben war. Und aus ihrer Ehe ging als einziges Kind Miguel Lieber hervor, der mit seinem Sohn Guillermo nun erstmals zu seinen Wurzeln in Oerlinghausen zurückkehrte.
Beruflich blieb die Familie auch in Uruguay dem Textilgeschäft treu. Guillermo Lieber führt in dritter Generation ein Unternehmen für technische Textilien in Montevideo.