Kinderschutzexperte spricht im Interview über staatliches Verhalten gegenüber Müttern, die ihre Kinder schützen wollen „Bindungsintoleranz halte ich oftmals für normal“

Herr Becker, würden Sie einer Mutter, die den Verdacht hat, dass das gemeinsame Kind vom Kindesvater sexuell missbraucht wird, zu einer Anzeige raten? Nein, nicht mehr regelmäßig, wie ich es früher getan habe. Da hilft vielleicht eine gute psychotherapeutische Aufarbeitung mehr, mit sich ins Gleichgewicht zu kommen als ein Ermittlungsverfahren, das kaum verheilte psychische Wunden wieder aufreißt, weil es viele Schwachstellen in unserer Justiz im Umgang mit Opfern sexueller Gewalt – und da zähle ich den Umgang mit Müttern dazu – gibt. Sie fordern, dass die Unschuldsvermutung gegenüber einem Beschuldigten nicht schwerer wiegen darf als die grundsätzliche Unvoreingenommenheit der Anzeige oder Aussage von Geschädigten gegenüber. Öffnet das nicht dem Missbrauch von Anzeigen Tür und Tor? Das glaube ich nicht. Es wird aber immer Fälle geben, in denen hochmanipulative Menschen diese Möglichkeit missbrauchen. In solchen Fällen muss es auch eine angemessene Strafe geben und Betroffene müssten auch die Möglichkeit haben, Schadenersatz und Schmerzensgeld fordern zu können, weil es ihnen in ihren sozialen Beziehungen und auch ihrem Beruf erheblich schaden kann und eventuell sogar die Existenz ruinieren kann. Aber ich habe in meinem Studium, als ich vor 40 Jahren bei der Polizei begann, noch gelernt: Sei vorsichtig, wenn eine Frau Anzeige erstattet wegen sexuellen Missbrauchs ihres Kindes. Klär erst einmal ab, ob eine Trennung vorliegt oder ansteht, weil die sich oft rächen wollen an dem ehemaligen Partner oder sich im Sorgerechtsstreit Vorteile verschaffen wollen. So etwas kann sein, aber doch nicht bei allen Frauen und wieso nicht bei Männern? Und wenn eine Frau eine Anzeige erstattet und dann gefragt wird: Ach so, Sie haben sich wohl von Ihrem Mann getrennt, dann kann sie tausend Mal sagen: Ja klar habe ich mich getrennt, nachdem ich den Verdacht hatte. Erst einmal zweifelt man an, was sie sagt. Was kann man dagegen tun? Die personelle Situation der Polizei und der Gerichte und Staatsanwaltschaften muss verbessert werden, damit gründlicher ermittelt werden kann. Mir geht es darum, dass für den Beschuldigten erst einmal die Unschuldsvermutung gilt, was gut ist. Es darf aber nicht für die Anzeigeerstatterin die Grundannahme gelten, sie würde die Unwahrheit sagen, wie es im Moment noch zu oft üblich ist. So etwas erschüttert auch den Glauben an unsere Justiz. Die werden nicht noch einmal Anzeige erstatten. Was kann diese aktuell noch gelebte Vorgehensweise für Konsequenzen haben? Eine Konsequenz kann sich im familienrechtlichen Verfahren, das meistens folgt, ergeben. Dort kann argumentiert werden: Sieh an, das war eine falsche Anzeige, woraufhin die Jugendämter oftmals unterstellen, die Anzeigeerstatterin hat dem Ex-Partner bewusst schaden wollen. Deswegen ist sie bindungsintolerant und erziehungsunfähig. Man entzieht ihr dann nicht selten die elterliche Sorge und überträgt diese auf den ehemals Beschuldigten. Aber ich sage ganz deutlich: Ein Freispruch oder die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens sagt nichts darüber aus, dass der ehemals Beschuldigte nicht trotzdem noch für das Kind gefährlich ist. Und in mehr als über 90 Prozent aller Fälle kommt es nicht zu einer Verurteilung der Beschuldigten, weil im Strafverfahren zu Recht sehr hohe Anforderungen an Beweise gestellt werden. Mitte der 80er Jahre veröffentlichte der amerikanische Kinderpsychiater Richard Gardner ein Buch zu seiner PAS-Theorie, auf deutsch: dem elterlichen Entfremdungssyndrom. Darin vertritt er die Meinung, dass Kinder, die über sexuellen Missbrauch durch den Vater berichten, lügen, weil sie von der Mutter manipuliert worden sind. Und auch Mütter würden über diesen Missbrauch lügen, um sich am Ex-Partner zu rächen oder weil sie sich davon einen Vorteil im Sorgerechtsstreit erhoffen.Gardners Thesen sind längst wissenschaftlich widerlegt und dürfen in vielen Ländern nicht mehr zur Beweisführung herangezogen werden. In Deutschland ist das noch erlaubt. Ja, das PAS-Syndrom wird sogar in Fortbildungen weiterhin gelehrt. Wie kann das sein? Ich schlage die Hände über dem Kopf zusammen, wenn ich das mitbekomme. Gardner war entweder selbst pädosexuell oder er hatte eine Form von Offenheit und Toleranz gegenüber Pädosexualität, die nicht mehr in die Zeit passt und eigentlich nie hineingepasst hat. Er hat in den 90er Jahren Bücher veröffentlicht, in denen er beschrieb, dass sexuelle Kontakte zwischen Kindern und Erwachsenen im Prinzip kein Problem sind, wenn sie innerhalb der Familie stattfinden. Und heute wirken diese Sachen noch nach. Das ist hochgefährlich und brisant. Ich finde es schlimm, dass Gardner immer noch in Referaten zitiert wird – auch von Jugendamtsleitern. Jugendämter bekennen sich zwar nicht offen zur PAS-Theorie, argumentieren aber genau in deren Sinn, wenn sie von Bindungsintoleranz reden . . . Bindungsintoleranz mag es geben, aber ich sage ganz deutlich: Wenn eine Beziehung in die Brüche geht, ist man in aller Regel erst einmal bindungsintolerant. Soll man den seinem Kind erzählen, was für ein toller Typ oder eine tolle Mutter das gewesen ist, von der oder dem man sich gerade getrennt hat? Das fällt schwer. Das halte ich vom Grundansatz her für normal. Wenn der Partner dann auch noch Gewalt ausgeübt hat, dann ist es noch normaler, wenn Mütter Schwierigkeiten haben, ihr Kind diesem Partner zu überlassen. Elternteile sind sogar verpflichtet, das eigene Kind vor solchen Menschen zu schützen, sonst verstoßen sie gegen ihre Fürsorgepflicht und machen sich strafbar. Und dann droht ihnen deshalb wiederum ein Entzug der elterlichen Sorge. Ein Dilemma von Amts wegen.

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