Soziologe: "Kinder werden von der Polizei aus der Schule geholt"

Der Kampf der Oerlinghauserin Elke D. gegen das Jugendamt des Kreises Lippe und gegen das Familiengericht Detmold, über den nw.de bereits mehrfach berichtet hat, ist kein Einzelfall. Der Soziologe Wolfgang Hammer hat eine Studie veröffentlicht, die eine Bestandsaufnahme des Familienrechts in Deutschland darstellt. In dieser Studie, für die mehr als 1.000 Fälle gesichtet wurden, geht es genau um die beiden Institutionen Jugendamt und Familiengericht. Hammer sieht ein strukturelles Problem. Herr Hammer, Sie haben mehr als 1.000 Fälle untersucht, in die nach Trennungen das Jugendamt oder das Familiengericht involviert war. Welches sind Ihre Kritikpunkte? Zunächst war für mich entscheidend, welche Argumente es gab, dass Jugendamt oder Familiengericht eine Trennung von Mutter und Kind angestrebt oder durchgesetzt haben. Ausgewertet habe ich nur Fälle, von denen ich die Argumentation durch Einsicht in Akten des Jugendamtes oder des Familiengerichts überprüfen konnte. In all diesen Fällen waren das eindeutig keine akuten oder erwiesenen Kindeswohlgefährdungen (KWG), sondern immer das Konstrukt einer zu engen Mutter-Kind-Beziehung, meist in Zusammenhang mit dem PAS-Syndrom. Das PAS, das Parental Alienation Syndrom, besagt, dass eine enge Bindung an (meistens) die Mutter für die Entwicklung eines Kindes nicht förderlich ist. Ja, und diese Theorie der KWG ist wissenschaftlich eindeutig widerlegt. Die Theorie sagt aus, dass Mütter ihre Kinder so eng an sich binden, dass sie keinen Freiraum mehr zu eigenen Entwicklung haben. PAS besagt weiterhin, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern von den Müttern erfunden wird, um ihre Ziele durchzusetzen... Das ist so. Der zweite Teil dieser Theorie ist: Wenn Mütter den Vorwurf erheben, dass die Kindesväter gewalttätig oder sogar sexuell übergriffig sind, dann sind das Erfindungen der Mütter. Und dem sind in vielen Fällen Jugendämter und Gerichte gefolgt, obwohl zum Teil in der Vorgeschichte belegt war, dass die Männer ihre Frauen geschlagen und auch gegenüber den Kindern gewalttätig geworden sind. Die Väter haben deshalb oft ihre Interessen gegen die Mütter und vor allem gegen das Kindeswohl durchsetzen können. In einigen dramatischen Fällen wurden die Kinder sogar mit Polizeigewalt aus den Wohnungen der Mütter geholt oder sie wurden während des Schulunterrichts mit Polizeigewalt aus den Schulen geholt und in irgendwelche Heime verbracht. Nun ist PAS längst widerlegt und darf in vielen Ländern vor Gericht auch nicht mehr eingebracht werden... Richtig! Dennoch wird es in Fortbildungen noch vermittelt. Wer kann dagegen etwas machen? Na ja, das Problem ist, dass in unserem Rechtsstaat gegen nationales und internationales Recht verstoßen wird. Gegen die UN-Kinderrechtskonvention und auch gegen das Istanbul-Abkommen. Darin haben sich die Länder, die dem Abkommen beigetreten sind, verpflichtet, Kinder vor Gewalt und sexuellem Missbrauch zu schützen, ebenso Frauen. Wenn diese Rechte eingehalten würden, dürfte das ja alles nicht passieren. Es gibt keine Aufsicht, die in solchen Fällen tätig wird. Bei uns ist die Justiz unabhängig, also bleibt nur der Rechtsweg bis hin zum Bundesverfassungsgericht, um Ansinnen durchzusetzen. Doch man könnte unterhalb der gesetzlichen Ebene ansetzen: Den Führungsebenen müssten durch Fortbildungen, Schulungen und entsprechende Erläuterungen der Justizbehörden von Bund und Land klargemacht werden, dass eine Beurteilung der Erziehungsfähigkeit durch die Jugendämter oder dann über Gutachten durch die Familiengerichte fachlich und rechtsstaatlich nicht haltbar sind. Das heißt, die Schwerpunkte der Fortbildungen für meine Berufsgruppe müssen verändert werden. Dazu brauchen wir in der Führungsebene Leute, die das auch durchsetzen. Gibt es in Deutschland ein strukturelles Problem bei den Jugendämtern? Na ja, wir haben in Deutschland seit längerem das Problem, dass der Weg der Fremdunterbringung von Kindern sehr ausgeprägt ist. Deshalb haben wir in Deutschland auch mehr Kinder in Heimen als jedes andere vergleichbare europäische Land. Wir haben in Deutschland mehr als 500 Jugendämter. Änderungen im Verhalten von Jugendämtern kann nur durch die übergeordnete Führungsebene angestoßen werden. Es gibt bereits Jugendämter, die konsequent einen fachlichen Stil durchziehen. Da passiert nichts. Bei anderen sind fachliche Fehler gang und gäbe und da sind die Vorgesetzten diejenigen, die das noch schüren, weil auch die Angst davor haben, dass ein Kind irgendwann zu spät aus der Familie genommen wird, denn das war in der Vergangenheit immer skandalträchtig. Es ist aber noch nie jemand sanktioniert worden, der 20 Kinder ohne Not aus den Familien herausgerissen hat. >>> Lesen Sie auch:Oerlinghauserin Elke D. kämpft um ihr Kind - Vorwürfe gegen Richterin Während ihre Studie von Mütterorganisationen gefeiert wird, äußern sich Juristen und Vätervereinigungen kritisch, nennen den Bericht unseriös, weil in 20 Jahren nur 92 Fälle vor dem Bundesverfassungsgericht oder dem Bundesgerichtshof verhandelt wurden. Haben Sie mit diesen Reaktionen gerechnet? Eher umgekehrt. Ich habe nicht damit gerechnet, dass alle führenden Fachleute und -organisationen in diesem Bereich diese Studie unterstützen und dass in vielen Behörden auf Landes- und Bundesebene und in Landtagen die Studie Grundlage für Beratungen ist, wie man das System verbessern und Rechtsbrüche vermeiden kann. Dass die kämpferischen Vätergruppen sich dazu negativ äußern, habe ich erwartet. Deren Argumente sind aber schnell durchschaubar: Ein repräsentativer Anspruch ist in der Studie nie erhoben worden, aber man kann nicht bestreiten, dass es diese mehr als 1.000 Fälle tatsächlich gibt. Juristen sind keine Psychologen. Die Familienrichter müssen sich also auf Gutachter verlassen. Nun haben Sie aber auch herausgefunden, dass viele Gutachten mangelhaft sind. Wie kann die Situation da verbessert werden? Nur durch entsprechende Fortbildungen von Familienrichtern, was schon seit langem gefordert wird. Bevor Familienrichter anfangen, müssten sie eigentlich eine qualifizierte Einführung bekommen, damit sie wissen, welche gängigen, wissenschaftlich gesicherten Theorien es gibt und welche sind wissenschaftlich bereits disqualifizierend und ohne Grundlage gekennzeichnet worden. Dann würden auch alle lernen, dass die Argumentation einer zu engen Mutter-Kind-Bindung fachlicher Blödsinn ist. Da das aber nicht vorgeschrieben ist, kommen ganz viele Familienrichter völlig überfordert zu diesem Job. In Deutschland herrscht grundsätzlich die freie Anwaltswahl. Nur ein Kind kann sich seinen Anwalt, den Verfahrensbeistand, nicht aussuchen oder ablehnen. Den bestimmt das Gericht. Kann das richtig sein? Es gibt leider sehr viele Verfahrensbeistände, die nicht ihren Job machen, nämlich die Interessen des Kindes zu vertreten, sondern die ganz klar auf der Seite der Väter und auch auf der Seite der Gerichte stehen und, weiß Gott, niemals aufseiten der Kinder. Das aktuelle Modell hat sich als untauglich erwiesen, denn es ist eingerichtet worden, um die Rechte der Kinder in einem Verfahren zu stärken. Haben Mütter, die sich ans Jugendamt wenden, von Vornherein schlechte Karten? Es kommt darauf an, an welches sie sich wenden. Wenn sie eines der schlechten Jugendämter erwischen, dann haben sie schlechte Karten. Wenn Mütter das zuständige Jugendamt nicht einschätzen können und sie niemanden haben, der ihnen hilft, würde ich keiner Mutter raten, sich ans Jugendamt zu wenden. Es gibt so viele Frauen, die sich selbst verfluchen, weil sie durch den Kontakt zum Jugendamt eine Maschinerie ausgelöst haben, die ihnen letztlich die Kinder weggenommen hat.

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