Hilflosigkeit und Mitleid. Verzweiflung und Sorge. Unwille und Wut. Angst und Ekel. Es ist eine Bandbreite an unterschiedlichsten Gefühlen, die Birgit Feldmann (alle Namen von der Redaktion geändert) überkommen, wenn ihre drogensüchtige Tochter vor der Tür steht. Stark hängt das davon ab, in welchem Zustand die 15-jährige Sarah ist. Abgemagert, stinkend und starrend vor Dreck; weinend, bedürftig, verletzt und kaum fähig, zu laufen; hochaggressiv und gewaltbereit, nüchtern oder völlig zugedröhnt, alles ist möglich. Immer und immer wieder kümmert sich Birgit Feldmann dann um ihre Tochter. Weil sie so unendlich erleichtert ist, dass sie noch lebt. Und so große Angst hat, dass sie es vielleicht bald nicht mehr tut.
Seit fast zwei Jahren geht die Familie durch diese Hölle. Sarah ist schwer cracksüchtig. Doch das ist nicht die einzige Katastrophe. Weil sie ihren Körper auf dem Straßenstrich verkauft, hat sie sich mit HIV infiziert. Meist treibt sie sich tagelang auf der Straße herum. Wo sie in den kalten Nächten bleibt, weiß ihre Mutter nicht. Klar ist, dass sie Kontakt zu zahlreichen Männern hat, ständig Gewalt erlebt, missbraucht und misshandelt wird. Sie selbst ist immer wieder hochgradig aggressiv, hat bereits mehrere Raubüberfälle begangen. Zu Hause ist sie bereits mit dem Messer auf ihre Mutter losgegangen.
Die Maßnahmen, die das Jugendamt für einen Fall wie Sarah bereit hält, sind ausgeschöpft. Ausgereicht haben sie ohnehin nie. Mehrfach wurde das Mädchen in Obhut genommen und in Jugendhilfeeinrichtungen gebracht. Mehrfach war sie mehrere Wochen durch einen richterlichen Beschluss geschlossen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie eingewiesen. Doch das Prozedere ist immer das gleiche: Nach maximal sechs Wochen wird Sarah nach Hause entlassen und macht innerhalb kürzester Zeit so weiter, wie vor ihrem Entzug. „Einmal dauerte es nicht mal 45 Minuten“, sagt Birgit Feldmann. „Wir waren kaum aus der Klinik zu Hause, da war Sarah schon los, um sich Stoff zu besorgen.“
Bielefelder Chefarzt der Jugendpsychiatrie hält Langzeit-Therapie für wichtig
Das Problem ist, dass die kurzfristigen Maßnahmen bei Weitem nicht ausreichen, um Sarah zu stabilisieren – zumal sie mittlerweile schwerst traumatisiert ist von ihrem Leben auf der Straße. Das bestätigt auf Anfrage auch Tim Emmrich, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Evangelischen Klinikum Bethel in Bielefeld. Zum Fall Feldmann darf er sich nicht äußern. Zwar hat ihn Birgit Feldmann für ein Gespräch mit dieser Redaktion von der Schweigepflicht entbunden. Da er aber ein aktuelles Gutachten zu dem Fall verfasst hat, kann er trotzdem nur generelle Angaben machen. „Klar ist, dass in einem solchen Fall eine sechswöchige Maßnahme nicht ausreicht.“
Seit anderthalb Jahren versucht Birgit Feldmann deshalb, einen langfristigen Aufenthalt ihrer Tochter in einer geeigneten geschlossenen Einrichtung zu erwirken. Doch vergeblich. „Mir wird immer wieder das Gleiche gesagt: Ohne die Zustimmung der Patientin ist das nicht möglich. Aber meine Tochter ist gar nicht mehr in der Lage, solche Entscheidungen zu treffen oder die Konsequenzen zu überblicken. Freiwillig wird sie nirgendwo bleiben, das sagt sie selbst auch immer wieder klar. Sie lebt nur noch für die Droge, sie bestimmt ihr ganzes Tun.“
Genau das ist der Knackpunkt. Denn eigentlich ist die geschlossene Unterbringung von Minderjährigen klar gesetzlich im Paragrafen 1631b des Bürgerlichen Gesetzbuches geregelt. Hier heißt es: „Eine Unterbringung des Kindes, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, bedarf der Genehmigung des Familiengerichts. Die Unterbringung ist zulässig, solange sie zum Wohl des Kindes, insbesondere zur Abwendung einer erheblichen Selbst- oder Fremdgefährdung, erforderlich ist und der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch andere öffentliche Hilfen, begegnet werden kann.“
Mit HIV auf dem Straßenstrich
Sich selbst und andere gefährdet Sarah permanent. Das sieht nicht nur ihre Mutter so, auch der Rechtsanwalt der Familie ist entschieden dieser Ansicht. Jens Andernacht ist Experte für Familien- und Sozialrecht und kennt, berät und vertritt die Feldmanns seit 20 Jahren. „Zum einen liegt hier die schwere Drogensucht vor und eine damit einhergehende starke Persönlichkeitsverschiebung.“
Eine andere Gefahr sei die HIV-Infektion, die Sarah das Leben kosten wird, weil sie nicht behandelt wird. Die entsprechenden Medikamente aber muss der Patient dafür regelmäßig und vor allem zum immer gleichen Zeitpunkt einnehmen, da das Virus sonst Resistenzen bildet. „Dazu ist Sarah gar nicht in der Lage.“
Hinzu kommt, dass die 15-Jährige sich weiterhin prostituiert und somit höchstwahrscheinlich auch ihre Freier infiziert. Dass es trotz dieser prekären Gemengelage keine Möglichkeit gibt, Sarah im nötigen Umfang zu therapieren, kann Andernacht nicht nachvollziehen. „Es ist schlimm, dass die Gesetzeslage nicht ermöglicht, Minderjährige vor sich selbst zu schützen.“
Kaum Plätze für Mädchen in passenden Einrichtungen in NRW
Doch genau das scheint der Fall zu sein. Hier genaue, fallbezogene Hintergründe zu ermitteln, scheitert aber am Datenschutz und daran, dass sich die meisten beteiligten Institutionen in unkooperatives Schweigen hüllen. Die Polizei teilt auf Anfrage mit, man könne aufgrund des Datenschutzes keine Auskunft zu Einzelpersonen erteilen. Die Aidshilfe reagiert auf eine Anfrage gar nicht. Und auch beim Jugendamt teilt man auf Anfrage mit, dass man sich nicht zu dem Fall äußern wird.
Zu einem generellen Gespräch über Systemsprenger wie Sarah sind die Leiterin Ulrike Bülter und ihre Kollegin Anke Berkemeyer vom Allgemeinen Sozialen Dienst aber bereit. Auch hier wird schnell klar: Langfristige Maßnahmen, zumal im geschlossenen Bereich, erhält im deutschen Jugendhilfesystem nur der, der trotz aller Widrigkeiten noch ein Stück weit kooperationswillig und motiviert ist, wirklich etwas zu verändern. Auf die Frage, ob schwer suchtkranke Minderjährige zu dieser Kooperation überhaupt in der Lage sind, schütteln beide Expertinnen aber auch entschieden den Kopf.
Die höchste Hürde aber scheint zu sein, überhaupt eine Einrichtung zu finden, die für Kinder wie Sarah aufgestellt ist. Mit der Möglichkeit der freiheitsentziehenden Unterbringung für Mädchen gibt es lediglich sechs Einrichtungen in ganz NRW, insgesamt 27 Plätze. Teilweise dauert es Jahre, hier unterzukommen. Dann wäre Sarah schon zu alt, um noch einen Anspruch zu haben. Die lediglich sechs weiteren Bundesländer in Deutschland, die über passende Einrichtungen verfügen, nehmen Bewerber jenseits ihrer Grenzen häufig gar nicht erst auf.
Amtsgericht Bielefeld wies auf Missstände bereits 2018 hin
Alle Einrichtungen eint zudem, dass sie sich sehr genau aussuchen, wem sie den raren Platz geben. „Und hier spielt der Kooperationswille erneut eine entscheidende Rolle. Da wird genau abgewogen,zu welchem Patienten das Angebot am besten passt. Wer Hilfe nicht annehmen kann oder will, gerät zwangsläufig ins Hintertreffen“, sagt KJP-Chefarzt Tim Emmrich.
Bekannt ist diese gravierende Unterversorgung schon lange, sie ist Familiengerichten ein großer Dorn im Auge. So teilt das Amtsgericht Bielefeld mit, dass es hierzu bereits 2018 eine Abfrage des Justizministeriums NRW gegeben habe und „dass hiesige Familienrichter von einem gravierenden Mangel an geeigneten geschlossenen Unterbringungsplätzen für Minderjährige berichtet hätten“.
Die Ergebnisse dieser Untersuchung gibt das Justizministerium nicht heraus. Hier teilt man aber mit: „Das Thema des Mangels an geschlossenen Unterbringungsplätzen ist hier schon seit Längerem bekannt.“ Die Schaffung von ausreichenden Plätzen liege allerdings nicht in der Verantwortung der Justiz, sondern beim Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration. „Wir haben die Problematik des Mangels mehrfach gegenüber den zuständigen Ressorts thematisiert und darauf gedrungen, weitere Kapazitäten zu schaffen.“Das ist nicht geschehen. Das Familienministerium antwortet: „Seit 2018 wurden keine weiteren Plätze zur geschlossenen Unterbringung von Minderjährigen in NRW geschaffen.“ Einen derartigen Auftrag formuliere das Sozialgesetzbuch nicht. „Weder dem Land noch den Landesjugendämtern Rheinland und Westfalen-Lippe obliegt ein Sicherstellungsauftrag, Plätze für eine geschlossene Unterbringung bereitzustellen.“ Kurz zusammengefasst: Es fühlt sich also niemand zuständig, das Überleben von Kindern und Jugendlichen wie Sarah zu sichern.
Immer häufiger Prellungen am ganzen Körper
Es sind Missstände, die Sarah bald mit dem Leben bezahlen wird. Ihr Zustand verschlechtert sich zusehends. Das Crack zerstört ihren Körper und ihren Geist, sie magert stetig ab, verliert Zähne, leidet an einer Schuppenflechte und unkontrollierten Muskelzuckungen. Zu regelmäßiger Körperhygiene ist sie nach Angaben ihrer Mutter gar nicht mehr in der Lage. Immer öfter kommt sie mit Prellungen nach Hause, zuletzt bemerkte ihre Mutter viele Hämatome im Genitalbereich. „Ich weiß von den Streetworkern, dass Sarah regelmäßig mit wesentlich älteren Männern mitgeht. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, was die mit ihr anstellen – aber ich weiß ja, wie ihr Körper aussieht.“
Hinzu kommen die psychischen Begleiterscheinungen. Wahnvorstellungen und Psychosen sind bekannte Auswirkungen von Crackkonsum auf den Körper. Birgit Feldmann hat immer häufiger den Eindruck, dass Sarah Tage durcheinanderbringt, desorientiert und aggressiv ist. „Einmal hat sie auch mit Personen gesprochen, die nur sie sehen konnte.“
Vor allem die Geschwister der 15-Jährigen halten es mittlerweile kaum noch aus, wenn ihre Schwester zu Hause ist. Und wenn sie nicht zu Hause ist, weiß ihre Mutter kaum wohin mit sich vor lauter Sorge. Bei jedem Telefonanruf oder Türklingeln zuckt sie mittlerweile zusammen. Hört sie Sirenengeheul, erstarrt sie. „Ich rechne mittlerweile immer damit, dass meinem Mädchen das Schlimmste passiert ist.“
Rechtsanwalt aus Bielefeld kritisiert Jugendamt
Hinzu kommen Geldsorgen. „Ich kann es mir oft gar nicht mehr leisten, dass Sarah bei uns lebt. Sie isst in ihren Drogen-Zuständen in einer Nacht den ganzen Kühlschrank leer. Das sind aber Lebensmittel, die für uns alle reichen müssen. Und dann kann ich oft kein Essen mehr für die anderen kaufen.“
Birgit Feldmann ist aber auch zermürbt vom ständigen Streit mit dem Jugendamt, vom Anträgestellen, von der Bürokratie und den vielen erfolglosen Versuchen, Hilfe zu bekommen. Drei bis vier Stunden täglich verbringt sie damit, heftet alles akribisch in Ordner, schreibt bis spät in die Nacht E-Mails. Am wütendsten macht sie das Gefühl, dass sie aufgrund ihrer Lebenssituation häufig diskriminiert wird. „Ich habe einen Stempel, weil ich Hartz IV bekomme und Kinder habe, die alle Unterstützung brauchen.“
Auch Rechtsanwalt Andernacht ist der Ansicht, dass sich das Jugendamt in diesem Fall nicht mit Ruhm bekleckert hat. „Da ist einiges nicht gut gelaufen. Die Sorgen der Mutter sind von Anfang an nicht ernst genug genommen worden. Ich bin mir sicher, dass man das Abdriften von Sarah durch entschiedeneres Eingreifen zu einem früheren Zeitpunkt noch hätte abfangen können.“
Neues Gutachten für eine Einweisung
Auch das Gefühl seiner Mandantin, diskriminiert zu werden, kann Andernacht nachvollziehen. „Ich erlebe häufiger, dass Menschen mit bestimmten Biografien von den Ämtern vorverurteilt, anders behandelt werden. In diesem Fall zu Unrecht. Frau Feldmann kämpft für ihr Kind, reißt sich ein Bein aus, um ihr zu helfen. Sie ist die sprichwörtliche Löwenmutter. Aber ab einem bestimmten Punkt kann sie einfach nichts mehr ausrichten.“
Vertrauen in die Jugendhilfe hat Birgit Feldmann deshalb nicht mehr. „Das, was Sarah in diesem System erlebt hat, hat sie immer noch weiter abrutschen lassen. Und das, was sie bräuchte, bekommt sie nicht. Ich weiß nicht mehr weiter. Ich bin verzweifelt. Man lässt hier einen Menschen einfach sehenden Auges sterben.“
Auch die aktuellsten Entwicklungen bestärken Birgit Feldmann darin, dass ihre Tochter die dringend benötigte Hilfe wohl nicht bekommen wird. Bereits vor drei Wochen wurde Sarah in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in einem neuen Anlauf untersucht, um mit einem entsprechenden Gutachten vor dem Familiengericht eine geschlossene Unterbringung zu erwirken. „Ich habe dort auch deutlich gemacht, dass die Zeit drängt, weil Sarah so abbaut.“ Passiert ist seitdem nichts.
Angst, dass Aids ausgebrochen ist
Vor einer Woche kam Sarah dann krank mit einem starken Husten und Fieber nach Hause, dazu vollkommen verstört und merkwürdig benommen. In ihrer Sorge bat die Mutter die Kinderärztin um einen Hausbesuch, den diese auch sofort vornahm. Sie diagnostizierte eine Lungenentzündung bei Sarah, äußerte aber auch Sorge über andere Symptome, die dafür sprechen, dass die HIV-Infektion in Aids übergegangen sein könnte. Vor allem aber sprach sie sich dafür aus, Sarah schnellstmöglich einzuweisen, damit sie die für die Lungenentzündung nötige Antibiotika-Therapie erhält. „Das ist aber auch nicht passiert“, sagt Birgit Feldmann. „Zwei Tage später war der Suchtdruck wieder so groß, dass Sarah trotz Fieber abgehauen ist, um sich Stoff zu besorgen. Die Therapie wurde also unterbrochen - ganz, wie ich befürchtet habe.“
Am meisten Sorge bereitet Birgit Feldmann derzeit aber der psychische Zustand ihrer Tochter. „Sie wird jetzt immer mit einem Auto gebracht, wirkt verstört und verängstigt. Dazu kommen die Hämatome im Genitalbereich. Ich weiß nicht genau, was los ist, habe keine Beweise. Aber ich befürchte, dass Sarah jetzt auch noch in die Hände von irgendwelchen Zuhältern geraten ist. Und ich kann es nicht deutlicher sagen: Wir brauchen Hilfe. Dringend. Jetzt.“