
Oerlinghausen. In der festlich illuminierten Kirche St. Michael leuchten die vielen Gesichter erwartungsvoll, als sie auf eine lyrisch-musikalische Reise mitgenommen werden. Die Menschen rutschen auf den Kirchenbänken endlich etwas näher zusammen und erleben ein erstes Stück zurückgewonnener Normalität. Die in ihrer Schlichtheit und Schönheit überzeugende Kirche an der Marktstraße bietet den lang ersehnten Raum, um gemeinsam einzutauchen in die von Musik und Gedichten beschriebenen Erinnerungen und Erzählungen der Vertriebenen.
Der Konzertabend ist Teil einer Veranstaltungsreihe, in der die Heimvolkshochschule St. Hedwigs-Haus dem 80. Jahrestag der Deportation der Deutschen aus Russland gedenkt. Am 28. August 1941 erfolgte der Erlass zur Deportation der Deutschen aus ihren Siedlungsgebieten entlang der Wolga. Auch aus anderen Gebieten im europäischen Teil der Sowjetunion, im Kaukasus, an der Krim und am Schwarzen Meer wurde daraufhin fast eine Million Deutsche nach Sibirien, Kasachstan und hinter den Ural deportiert.
So unterstreicht die Leiterin der Heimvolkshochschule St. Hedwig-Haus, Nike Alkema, in ihrer Einführung das Anliegen ihrer Einrichtung, den Leidensweg der Deutschen aus Russland nachvollziehbar zu machen, auch um für mehr Verständnis in der Mehrheitsgesellschaft zu werben und Erklärungen zu liefern, warum so viele Menschen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen sind. Es sei wichtig, „Brücken zu bauen“, denn „Brücken führen zusammen, Brücken ermöglichen es, sich auszutauschen, Brücken überwinden Hindernisse und ebnen den Weg, eine andere Seite, eine andere Perspektive einzunehmen“. Es gehe auch darum, an das Erlebte emotional anzuknüpfen und dafür biete ein solcher Konzertabend einen passenden kulturellen Rahmen.
Die Zuhörer kommen in den Genuss von klassischen Klängen von Robert Schumann, Franz Schubert, Antonin Dvorak, Fanny Hensel und Peter Tschaikowski, die die international renommierte Pianistin Nadja Naumova ihrem Piano mühelos entlockt. Die Begleitung übernimmt der in Weimar und Detmold ausgebildete Tenor Johann Penner. Seine Stimme erfüllt den gesamten Kirchraum beeindruckend klangvoll mit Texten von Heinrich Heine, Johann Wolfgang von Goethe, Joseph von Eichendorff und Friedrich Rückert.
Brücken bauen, Verbindungen suchen
Auch auf Russisch singt der weit über die Region bekannte Tenor zwei der wunderbaren Texte über Heimat und Heimatlosigkeit, über Sehnsucht und Schutzsuche, über Lachen und Weinen, die die Schönheit und Klanghaftigkeit dieser Sprache nachvollziehbar machen.
Zwischen den musikalischen Stücken liest die Lyrikerin Lilli Gebhard aus ihrem Gedichtband „Wie Schatten werden“ eindrucksvoll und einfühlsam. Die Konzertgäste lauschen gebannt und verharren sichtlich berührt, als von verlorenen Menschen, verdrängten Verlusten und vergessenen Erinnerungen die Rede ist, wo Vergangenes auf das Heute trifft, sich Existenzielles mit Alltäglichem mischt. Es sind verschüttete Erinnerungen, die ans Licht kommen, aber auch Bilder von Hoffnung und Perspektive werden sprachlich virtuos gezeichnet.
Somit wird der Abend zu einem Angebot, in den Austausch zu kommen, sich gemeinsam zu erinnern, die Schönheit auch im Traurigen zu empfinden, Kraft auch aus dem Verlorenen zu gewinnen. So ist der Aufruf „kommt alle an den Tisch, es ist genug Platz für alle da“, den Johann Penner in die Gästechronik des Hedwigshauses am Ende des Konzerts schreibt, sinnstiftend und auffordernd, füreinander da zu sein und zu teilen – die schmerzenden wie schönen Erlebnisse. Es sind Begegnungen wir diese, die Empathie schaffen und Erfahrungen nachvollziehbar werden lassen. Wie es Lilli Gebhard in ihrem Gedichtband in der letzten Passage schreibt: „Brücken müssen gebaut, Verbindungen gesucht, Verstehen gewollt werden.“