Lügde-Urteil

Beratungsstellen: "Urteil erschüttert Rechtsempfinden von Betroffenen"

Das Mädchenhaus und die Ärztliche Beratungsstelle in Bielefeld zeigen sich "irritiert" über das geringe Strafmaß und befürchten negative Signalwirkung für potenzielle Täter und Opfer

Kritik am Strafmaß des ersten Urteils im Fall Lügde äußern nun auch zwei Bielefelder Beratungsstellen. | © picture alliance/dpa

17.07.2019 | 19.07.2019, 17:22

Bielefeld. Ebenfalls "irritiert" über das Strafmaß des ersten Urteils im Lügde-Prozess zeigen sich die Beratungsstelle Mädchenhaus Bielefeld e.V. und die Ärztliche Beratungsstelle gegen Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern e. V. in einer Stellungnahme. Die beiden Fachberatungsstellen äußern ihr Unverständnis darüber, "dass dem von der Staatsanwaltschaft vorgeschlagenem Strafmaß von 2 Jahren und 9 Monaten von Seiten des Gerichts nicht gefolgt" wurde.

Zuvor hatten sich schon NRW-Familienminister Stamp, der Kinderschutzbund und der Verein Zartbitter kritisch zum ersten Urteil im Fall Lügde geäußert. Michael Heghmanns, Direktor des Instituts für Kriminalwissenschaften an der Universität Münster, hingegen hielt das Urteil des Detmolder Landgerichts gegen Heiko V. für nachvollziehbar.

"Hürde zur Anzeigenerstattung erhöht"

"Aus der Erfahrung mit vielen begleiteten Strafverfahren wissen wir, dass die Urteile und die erteilten Strafmaße immer auch eine Signalwirkung haben sowohl auf (potentielle)Täter als auch auf Opfer und vor allem auch auf Betroffene, die mit dem Gedanken spielen, eine ihnen widerfahrene sexualisierte Gewalt zur Anzeige zu bringen", schreiben die beiden Institutionen.

Leider erhöhten geringe Strafmaße für eindeutige und gut beweisbare Straftaten die Hürde zur Anzeigenerstattung und zur Inanspruchnahme von Hilfe für all die Betroffenen von sexualisierter Gewalt, deren Erfahrungen nicht so eindeutig zu beweisen sind. "Dies gilt besonders auch für Bezugspersonen von kleinen Kindern", heißt es weiter. Darüber hinaus erschüttere es bei vielen direkt oder indirekt Betroffenen auch das „Rechtsempfinden".

Das Mädchenhaus und die Ärztliche Beratungsstelle regen in ihrer Stellungnahme an, grundsätzlich das Strafmaß zur Verbreitung, Erwerb und Besitz von kinderpornographischen Schriften zu überdenken. "Unabhängig davon möchten wir all diejenigen, die sexualisierter Gewalt erfahren haben, ermutigen sich auch nach solchen Informationen, professionelle Hilfe zu holen und beraten zu lassen." Die strafrechtliche Verurteilung eines Sexualstraftäters sei immer nur eine Form der Reaktion und Ausdruck der gesellschaftlichen Haltung und könne nie in wirklicher Relation zum Leid der Betroffenen gestellt werden.

"Urteil kann Gesundungsprozess erschweren"

"Ein als gerecht empfundenes Strafmaß kann die Verarbeitung von sexualisierter Gewalt positiv beeinflussen und es gibt unabhängig davon auch individuell sehr unterschiedlich aussehende Verarbeitungswege, die dazu führen, wieder ein glückliches und selbstbestimmtes Leben zu führen", betonen die Fachberatungsstellen. Ein als ungerecht empfundenes Urteil dagegen könne den Gesundungsprozess maßgeblich erschweren.