Willebadessens Bürgermeister: Die Mobilität auf dem Land ganz neu denken

Das erste Jahr als Bürgermeister in Willebadessen – in drei Adjektiven. &bdquo;Außergewöhnlich – weil geprägt von Krisenmanagement in Pandemie-Zeiten und persönliche Herausforderungen", antwortet Norbert Hofnagel. &bdquo;Ich war froh, mit ein bisschen Lebenserfahrung, besonnen und als Mensch gefestigt in diese Zeit gehen zu können." Zweites Adjektiv: &bdquo;Extrem intensiv", weil jegliche Planbarkeit gefehlt habe und man jeden Tag die Frage aufs Neue habe stellen müssen: Wie wird es morgen? Und schließlich &bdquo;total belastend": Aufgrund der menschlichen Entfremdung: &bdquo;Der Mensch ist ein Herdentier und nicht dafür geboren, allein zu sein." Drei Dinge, auf die Sie im ersten Amtsjahr stolz sind. &bdquo;Stolz bin ich auf den Einsatz der Mitarbeiter in den Ordnungsdiensten, Schulen oder Kindergärten, ohne die unser tägliches Leben hätte so während der Pandemie nicht laufen können", sagt Hofnagel, ohne lange überlegen zu müssen. Stolz sei er auch auf Bau des Familienzentrums An den 7 Quellen in Willebadessen: &bdquo;Etwas Einmaliges und Besonderes im Kreisgebiet. Ein Meilenstein, der in Kürze fertig sein wird." Die vier Millionen Euro seien eine &bdquo;Investition in die Zukunft unserer Kinder". Und drittens sei er stolz auf die Feuerwehr, die nach fünf Jahren Baustelle &bdquo;mit mir einen Neustart gewagt hat". Man sei gerade am Brandschutzbedarfsplan. Auf welche drei Dinge sind Sie es nicht? &bdquo;Ich lerne als jemand, der von außen aus der Wirtschaft in die Verwaltung gekommen ist, warum wir wie und so unterschiedlich ticken", sagt Hofnagel. &bdquo;Ich bin mit Sicherheit einigen Leuten auf den Schlips getreten." Aber, sagt der Bürgermeister mit einem Lächeln, &bdquo;ich arbeite an mir". Was nervt Sie und ist ganz anders als gedacht? Und was hat Sie am meisten überrascht an Ihrem Job? Es nerve ihn der &bdquo;ausgeprägte Egoismus in Teilen der Gesellschaft ohne Rücksicht auf andere". Der Individualismus und das hohe Anspruchsdenken, &bdquo;ohne überhaupt in den Sinn zu bekommen: Was erwartet die Gesellschaft von mir?" Es nerve ihn auch das &bdquo;schwindende Demokratieverständnis", das spalterisch in der Gesellschaft wirke, und das fehlende Verantwortungsbewusstsein einzelner gegenüber der Gesellschaft. Dazu die Respektlosigkeit und die Verrohung in Sprache und Umgang. Und was überraschte? &bdquo;Wie wenig Kenntnisse zu Funktion unserer Systeme in den Kommunen und Kreisen zur Entscheidungsfindung in den Gremien wie Rat oder Ausschüssen doch in der Breite der Informationsgesellschaft vorhanden ist." Es fehle an politischer Bildung. Dazu komme, dass zu wenig gelesen und in Teilen zu oberflächlich gedacht werde. Viele Menschen bewegt der Klimawandel. Was tut Willebadessen aktuell mit Blick auf noch mehr Klimaschutz – und wo sehen Sie nachhaltige Ansatzpunkte für noch mehr Engagement? &bdquo;Wir engagieren uns im Bereich Stromerzeugung", sagt der Rathauschef. Zum Beispiel seien Anlagen auf fast allen städtischen Gebäuden bereits gebaut oder in Planung. &bdquo;In der Stadt Willebadessen produzieren die installierten Anlagen bereits 384 Prozent des Gesamtstromverbrauches in der Stadt." Zudem werde man &bdquo;moderaten" Windenergieanlagenausbau begleiten. Hofnagel: &bdquo;Wir wollen keine Windkraft ohne Rücksicht und Partizipation für die Menschen, die die Lasten im Umfeld tragen." Hier könne man über finanzielle Unterstützung von Vereinen und Ähnliches Akzeptanz schaffen. Willebadessen klammere bei den Potenzialflächen ausdrücklich nicht den kompletten Wald als Standort aus: &bdquo;Wir haben mehrere 100 Hektar Nadelholz verloren." Diese Flächen könnten – bis dort neuer Wald aufgebaut und gewachsen sei – über Windenergieanlagen bei der Finanzierung des Waldum- und Neuaufbaus mithelfen. Den Wald aufzubauen, das ist Hofnagel ein wichtiges Anliegen. Er spricht vom &bdquo;Generationenvertrag", von Rohstofflieferant, Erholungsraum und Schutzfunktion des Waldes – und von &bdquo;viel Arbeit und Geld in den nächsten Jahren." Was ist &bdquo;typisch Hofnagel" in Willebadessen geworden, also wo ist Ihre Handschrift erkennbar? &bdquo;Ich bin unkonventionell und pragmatisch, nicht verstrickt in alten Gewohnheiten oder Mustern", erklärt Hofnagel und spricht von &bdquo;Fachlichkeit und Sachlichkeit", die seinen Stil prägten: &bdquo;Man darf nicht stehenbleiben und zurückblicken, sondern muss im Leben auch mal etwas ausprobieren. Sonst gibt es keine Entwicklung. Und dabei geht auch mal etwas schief." Als erfolgreiche Beispiele dieses Stils nennt er die Neuordnung der Feuerwehr, die für ihn Chefsache war, ebenso wie die Neuorganisation der Verwaltungsstruktur, das Familienzentrum, das Testzentrum im Rathaus mit dem DRK oder den Abschluss der Zertifizierung als Gemeinwohl-Kommune. Wie zufrieden sind Sie mit der Ratsarbeit und mit der Kommunikation nach außen? &bdquo;Die Ratsarbeit funktioniert sehr gut. Ein wertschätzender und konstruktiver Austausch läuft zu allen Fraktionen", das sei die Basis. Das sei nicht immer so gewesen, erinnert Hofnagel an &bdquo;Grabenkämpfe". Er sehe sich als Bürgermeister für alle über alle Parteien hinweg. Heute kommuniziere man regelmäßig &bdquo;fachlich und sachlich orientiert": &bdquo;Der gestalterische Wille, etwas für die Stadt Willebadessen und deren Bürger zu tun, steht oben an." Der Rathauschef bekennt auch, dass man in der Kommunikation nach außen, in der Öffentlichkeitsarbeit in der Verwaltung noch besser werden könne und Kapazitäten schaffe, die in den vergangenen Jahren durch Personalwechsel weggefallen waren. Wie beurteilen Sie – auch vor dem Hintergrund des Infektionshotspots im Herbst, der Bedrohungen und Diskussionen – die Auswirkungen von Corona ganz konkret auf Willebadessen? Wo gibt es die schlimmsten Einbrüche, wo ist man mit dem blauen Auge davongekommen? Hofnagel ist sicher: &bdquo;Die schlimmsten Einbrüche gibt es auch bei uns immer da, wo verantwortungslos – zumeist durch einzelne Personen – gehandelt wird." Man habe jedoch durch hohe Investitionen in &bdquo;hochwertige Luftreiniger und ein gleichzeitiges Hygienekonzept mit regelmäßigem Lüften" große Einbrüche vermeiden können. Hofnagels Lob geht an die drei Arztpraxen, zwei Apotheken und eine Teststation des DRK im Rathaus, &bdquo;die durch ihr großes Engagement beim Impfen und Testen durch zusätzliche Angebote und außerordentliche Flexibilität ganz viel angefangen haben und dies immer noch tun." Auch das Boostern laufe auf Hochtouren. &bdquo;Hier wird Verantwortungsbewusstsein vorgelebt und gezeigt, wie es mit besonderem Einsatz gehen kann." Dinge, die auf jeden Fall zuerst für 2022 auf der Agenda Hofnagel stehen? &bdquo;Sobald es geht, Normalität und Regelbetrieb, und nicht Ausnahmezustand wie das ganze letzte Jahr", antwortet er. &bdquo;Das ist wichtig, um mal aus dem Modus Krisenmanagement rauszukommen und Kapazitäten für Neues freizusetzen." Dann werde es mit Hochdruck um Themen wie veränderter Tourismus, Veränderungen im ÖPNV, Energie und Klima mit Wind, Photovoltaik oder Wasserstoff gehen. Und auch um den Ausbau der interkommunalen Zusammenarbeit, wie man es heute schon als Vorzeigeprojekt und begleitet von der Kommunalagentur mit einer Nachbarstadt umsetze. Wo wird sich die Stadt Willebadessen 2022 besonders verändern? Wo hat sie das 2021 getan? 2021 habe die Untersuchung nach dem Kassenvorfall zu massivem Veränderungsbedarf in der Verwaltung geführt. Dieser Weg sei eingeschlagen, sehr aufwendig und werde 2022 fortgesetzt und abgeschlossen werden. Es habe strukturelle, organisatorische und personelle Veränderungen gegeben. Auch werde sich die Stadt durch die neue Nachfrage nach dem Landleben verändern. Man stehe vor Herausforderungen, was Nutzung oder Abriss alter Gebäude in den Ortskernen betreffe. Vorteil: &bdquo;Dort liegen bereits Versorgungsleitungen." Deshalb dürfe man Innenbereiche nicht aufgeben, mahnt Hofnagel Verantwortung an mit den Worten &bdquo;Eigentum verpflichtet". Die Städte werden sich in den kommenden Jahren mit der nph-Umstrukturierung auf Gemeinwirtschaftlichkeit den öffentlichen Busverkehr in der bisherigen Form nicht mehr leisten können. Welches ist das Konzept der Mobilitäts-Zukunft für Willebadessen? Der klassische Nahverkehrsverbund der vergangenen Jahre erfahre gerade Grenzen. Das habe mehrere Ursachen. Ware komme vermehrt zum Kunden – nicht mehr umgekehrt. Dazu Homeoffices und mobile Arbeiten, Bring-Services von Apotheken und anderen. Sprich: Ein verändertes Verbraucherverhalten fordere Veränderungen im ÖPNV. Dazu komme: Das Nutzungsverhalten in Ballungsräumen unterscheide sich von ländlichen Räumen, wo große Entfernungen zu überbrücken seien. Dazu der &bdquo;Spagat" von leeren Bussen auch im Stundentakt und viele 100.000 Euro höhere Kosten jährlich für die Kommune &bdquo;ohne Mehrangebot". Der klassische Linienverkehr von heute sei etwas für Ballungsräume und im ländlichen Raum nicht finanzierbar und auch nicht pragmatisch: &bdquo;Weil eben nicht nur der Ticketpreis oder die Verfügbarkeit das Kriterium für die Entscheidung ist. Nach meiner Wahrnehmung spielt der Faktor Zeit eine wesentlich entscheidende Rolle." 15 bis 20 Kilometer zu überbrücken und dafür ein bis eineinhalb Stunden aufzuwenden, dabei über X Orte zu fahren und das zwei Mal am Tag, das halte viele Menschen davon ab, den Bus zu nutzen. Deshalb werde Individualverkehr auf dem Land weiterhin eine dominierende Rolle spielen. Aber anders. Nicht alles per Auto und Einzelperson. Für Hofnagel sind Themen wie alternative Fahrzeuge, Abholtaxis, Bürgerbusse, On-Demand-Verkehrskonzepte und auch klassische Fahrgemeinschaften bei steigenden Energiepreisen (wieder) ins Blickfeld zu rücken. Ihre wichtigste Entscheidung 2021 und Ihre schwerste Entscheidung? Das fasst der Willebadessener Bürgermeister ganz kurz und knapp: &bdquo;Personelle Entscheidungen. Weil da Menschen mit Schicksalen dahinter stehen." Ihre größte Freude? Sei immer dann da, &bdquo;wenn wir alle gesund sind, es in der Familie stimmt und wir unsere Leistung in unserem Job bringen können." Eine Bilanz von Ihnen über sich selbst: Wo stehen Sie heute als Kommunalpolitiker und Mensch, wo und wie haben Sie sich verändert? &bdquo;Als Mensch stehe ich mit beiden Beinen fest auf der Erde", sagt Norbert Hofnagel bestimmt. &bdquo;Ich habe meine Meinung, die ich teile und die natürlich für Diskussionen sorgt. Ich bin für alle Bürger da. Ich teile nicht nach politischen Lagern, sondern nach Fach- und Sachlichkeit." Welche Überschrift/Schlagzeile wollen Sie im zweiten Amtsjahr unbedingt in Zusammenhang mit der Stadt Willebadessen lesen? &bdquo;Schöne Dinge, Erfolgserlebnisse, zufriedene Menschen. Keine Umweltkatastrophen, Pandemien, Seuchen oder Kriege."

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