Neiddebatte: Wir sollten eher über "grandioses Politikversagen" sprechen

Kreis Höxter. Neidisch? Geimpfte und Genesene sollen laut der jüngsten Coronaschutzverordnung Privilegien erhalten. Zum Beispiel müssen sie keinen aktuellen Negativtest vorweisen, um Essen oder Shoppen zu gehen. Während Geimpfte sich auf ein paar neue Freiheiten freuen können, gibt es für viele Menschen nach wie vor nicht einmal eine Impfperspektive. Kinder und Jugendliche etwa. Mit ihnen sind auch ihre Familien betroffen. Die Kritik dieser Menschen läuft aktuell unter dem Schlagwort "Neiddebatte". Zurecht? "Neid ist ein starkes Gefühl", erklärt Günter Wilhelms, Ethiker aus Warburg und Professor an der Theologischen Fakultät in Paderborn, "eine reflexartige Reaktion auf eine gefühlte Ungerechtigkeit". Und, das ist wichtig, der Begriff Neid ist ein Wort, das von außen verwendet wird. "Die, die den Neid ins Spiel bringen, sind meist nicht die, die angeblich Neid empfinden", erklärt der Ethiker. Stattdessen sei der Neid "eine Kategorie derjenigen, die eine Infragestellung ihrer Position abwehren wollen". Das zeige sich auch immer wieder abseits von Corona. Zum Beispiel, wenn es um Gehälter gehe. Wenn hohe Löhne einer Branche kritisiert würden, dann werfe die Branche den Kritikern gerne Neid vor. "Es geht dann darum, die Diskussion zu verhindern und die Kritiker in eine Schmuddelecke zu stellen. Nach dem Motto: Wer neidisch ist, ist im Unrecht." Denn Neid ist immer etwas Schlechtes. Im christlichen Kontext sogar eine Todsünde. Gleichzeitig ist Neid aber etwas zutiefst Menschliches. "Weil er mit Gerechtigkeit beziehungsweise Ungerechtigkeit zu tun hat und wir auf Ungerechtigkeit sensibel reagieren", sagt Günter Wilhelms. Ein "großer Fehler", der Spaltungen fördert Für "Neid" sorgt wohl vor allem der Impfstoffmangel. Am Anfang aber, als noch weniger Impfstoff da war als jetzt und nur die über 80-Jährigen geimpft wurden, da wurde nicht über Neid diskutiert. Wie kommt das? "Wenn die Politik Maßnahmen ergreift, ist es wichtig, dass gewisse Grundsätze beachtet werden, zum Beispiel Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Konsequenz", sagt Wilhelms. Dass die Alten zuerst das Vakzin erhalten, das war für die Menschen verständlich, da besonders gefährdet ist, wer über 80 Jahre alt ist. Danach sei die zu Recht vorgenommene Impfpriorisierung "zunächst noch relativ plausibel" gelockert worden. 79-Jährige, 78-Jährige, Vorerkrankte, Menschen, die in Krankenhäusern arbeiten. Mittlerweile ist es aber höchst unübersichtlich, wer warum in welcher Prioritätsgruppe einsortiert ist - und warum der Nachbar seine Spritze schon hat. Ein "großer Fehler", der Spaltungen fördert und Solidarität schwer macht, findet Wilhelms. Dann die Sache mit der Inzidenz. "Lange war die 50 die magische Zahl, zwischendurch die 35, jetzt ist es die 100." Lange hätten sich beispielsweise Ministerpräsidenten mit Verschärfungen überboten. Jetzt wird um die Wette gelockert. Dazu "kleine Provinz-Prinzen, die sich ins Licht stellen wollen", ärgert sich Wilhelms. Spielt er auf Höxters Landrat Michael Stickeln an, der mittlerweile zwei Allgemeinverfügungen für den Kreis Höxter verfasst hat - einmal in die verschärfende, einmal in die lockernde Richtung? "Zu Landrat Stickeln kann ich nichts sagen; das wissen Sie besser als ich." Impfdrängler hätte die Politik verhindern können Hinzu kommen Berichte über "Impfdrängler", angebliche und womöglich tatsächliche. Auch der Leiter des Impfzentrums im Kreis Höxter war zwischenzeitlich Vorwürfen ausgesetzt. Aus Gefälligkeit soll er mehrere Menschen geimpft haben, beschwerte sich ein anonymer Briefeschreiber. Es stellte sich heraus: Es ging um übrig gebliebene Impfdosen, die andernfalls hätten entsorgt werden müssen. Für Wilhelms ist klar, dass solche Fälle von der Politik hätten bedacht und nachvollziehbar geregelt werden müssen. "So überraschend ist das Szenario doch nicht, dass abends Impfstoff übrigbleibt", sagt Wilhelms. Er sei der allerletzte, der die Politik zum Sündenbock machen wolle. Sie müsse nachvollziehbar entscheiden, um das nötige Vertrauen zu gewinnen. "Der Begriff Neid ist im Zusammenhang mit Corona irreführend, weil er von dem grandiosen Politikversagen ablenkt." Und von Masken- und Korruptionsaffären. Mit der Diskussion um Privilegien für Geimpfte ist die vermeintliche "Neiddebatte" dann aber richtig in Fahrt gekommen. Warum stehen überhaupt Privilegien im Raum? Argumentiert werde auch mit dem Grundgesetz, erklärt Wilhelms. Die durch das Grundrecht gesicherten Freiheiten dürfen durch die Coronaschutzverordnung nur beschnitten werden, um die Gefahr der Pandemie abzuwehren. Ist die Gefahr vorüber, müssen die Freiheiten wieder gewährt werden. "Ich frage mich aber, ob diejenigen, die Freiheiten für die Geimpften fordern, das Grundgesetz überhaupt gelesen haben", kritisiert Wilhelms, "denn Freiheit gibt es nur zusammen mit Gerechtigkeit und man darf die Begriffe nicht gegeneinander ausspielen". Und was, wenn diese Privilegien wenigstens dafür sorgen, dass sich viele Menschen impfen lassen? "Das wäre keine gute Idee." In einer Demokratie müssten Menschen von solchen Maßnahmen wie Impfungen mit Gründen überzeugt werden. "Und nicht mit Emotionalität oder Neid - denn dann ginge der Schuss nach hinten los."

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