Historischer Fall: Opfer der Steinheimer Polizei oder ein Trunkenbold?

Steinheim. Heutzutage wäre es wohl eine sogenannte &bdquo;Dienstaufsichtsbeschwerde“, damals eine handgeschriebene Beschwerdeschrift: Steinheims Chronistin Heike Sternberg-El Hotabi hat im Stadtarchiv ein spannendes Dokument aufgetan, einst geschrieben vom Kaufmann Franz Anton Walbaum gegen die örtliche Polizei sowie gegen den Steuer-Kontrolleur Traufeld, den Kontrolleur Meyerhoff und den Rendant Rohden, und sie sagt: &bdquo;Die Beschwerde ist sowohl kulturhistorisch als auch vom juristischen Standpunkt aus interessant, gewährt sie doch Einblicke in die Steinheimer Gesellschaft um 1822“. &bdquo;Damals standen im Ort dem Heer an Ackerknechten, Tagelöhnern und Handwerkern die studierten Akademiker wie Verwaltungsbeamte, Pfarrer, Ärzte, Apotheker sowie wohlhabende Kaufleute und Gutsbesitzer gegenüber“, erzählt Sternberg-El Hotabi. Der Beschwerdebrief, den sie entdeckt hat, ist zu dieser Zeit vom Steinheimer Gutsbesitzer und Handelsmann Walbaum verfasst worden, adressiert an den für Steinheim zuständigen Landrat von Borch in Holzhausen. &bdquo;Die einleitenden Worte des Schreibens sind derartig mitleiderregend abgefasst, gleichermaßen auch poetisch, so dass der Leser sofort Partei für den Kaufmann ergreift“, beschreibt die Chronistin. Der Beginn des Schreibens: &bdquo;Hier zu Steinheim von jedermann verachtet, gemaßhandelt und verlassen, wage ich es nicht mit Unrecht mich erst an euer Hochwohlgeboren schriftlich zu wenden, wohlwissend daß Euer Hochwohlgeboren mir helfen können und mir Schutz und Schirm angedeihen lassen“. Ein Abend voller Streitigkeiten und Unstimmigkeiten ging voran Walbaums misslicher Lage und Beschwerde vorausgegangen waren ein Abend und eine Nacht voller Streitigkeiten und Unstimmigkeiten: Ein Streit mit dem Kaufmann Lammers, bei dem es um eine ausstehende Geldschuld ging, war in der örtlichen Engel-Apotheke, in der man sich eigentlich gern zu einem Plausch bei einem Likör traf, eskaliert. &bdquo;Dabei brach dessen Wuth gegen mich aus. Er warf mich aus der Apotheke, so daß ich sinnlos und überrascht nach Hause taumelte“, beschrieb es Walbaum damals aus seiner Perspektive. Kaum daheim, wurde Walbaum aber durch den Gendarm Genisky verhaftet und &bdquo;in ein unterirdisches Gewölbe ganz tief in die Erde“ geworfen, wie der Verhaftete hinterher berichtete. Und: &bdquo;Man brachte mir weder Licht noch Stroh noch weniger Lebensunterhalt, obwohl ich alles für Geld forderte, aber umsonst. Verlassen in der Dunkelheit des Gewölbes litt ich“. Wohl auch, weil man ihn dort schikanierte: &bdquo;Statt der wegen seiner Kurzsichtigkeit angeforderten Brille brachte man ihm eine Narr(en)brille. Man lästerte über ihn, verlachte ihn“, so die Chronistin. Auch Rippenstöße habe er abbekommen. In seiner Beschwerdeschrift vermerkte Walbaum zudem, dass man andere Bürger, die sogar schwerwiegende Verbrechen begangen hätten, wiederum nicht eingesperrt habe. Sternberg-El Hotabi: &bdquo;Er beschuldigt die Polizei damit mehr oder weniger offen der Korruption“. Antwortschreiben umfasst 21 Seiten Der angeschriebene Landrat forderte zeitnah vom damaligen Bürgermeister Franz Joseph Vahle eine Stellungnahme zu diesem Fall – und erhielt vom Steinheimer Stadtoberhaupt eine Antwort, die ganze 21 Seiten umfasste. &bdquo;Der Beginn liest sich fast wie ein psychologisches Gutachten“, sagt Sternberg-El Hotabi über ihre Recherchen. Vahle schrieb: &bdquo;Der Walbaum kann bekanntlich eine fromme Mine annehmen und eine so mitleiderregende Sprache führen, daß jeder, der nicht öfters Umgang mit ihm hat und ihn nicht genau kennt, ihn für einen Märtyrer der verfolgten Unschuld halten sollte“. Und weiter: &bdquo;Beträgt sich derselbe gegen seine Eltern und Geschwister nicht so wie es Religion und die Naturgesetze wollen, sondern beleidigt sie gröblich mit Worten und tätlich“. Der Steinheimer Kaufmann sei ein Unruhestifter, Querulant und Trunkenbold, der sich mit den Wirtsschenken der niederen Stände anbiedern würde. &bdquo;Mehrfach betont Vahle, wie unschicklich, ja geradezu verwerflich es doch sei, dass der studierte Kaufmann und Gutsbesitzer sich mit Leuten einließ, die unter seinem Stand seien“, so die Archivarin. Die Vorgänge des Beschwerde-Anlasses schilderte Vahle völlig anders: &bdquo;Walbaum sei bereits betrunken in die Apotheke gekommen und habe dort nicht nur weiter Alkoholisches getrunken, sondern auch den Kaufmann Lammers öffentlich wegen seiner Schuldforderung gemahnt“, so Sternberg-El Hotabi. Es folgten wohl einige Beleidigungen, woraufhin der Gendarm ihn aus der Apotheke komplementiert und nach Haus geliefert habe. &bdquo;Ihr könnt mich alle ...“ Kaum aber habe sich der Gendarm umgedreht, habe Walbaum erneut zur Schenke laufen wollen, um weiter zu trinken. Als Genisky ihn daran hindern wollte, habe Walbaum gerufen: &bdquo;Ihr könnt mich alle miteinander am A. . . lecken“. &bdquo;Der Gendarm hätte es aber nicht zulassen wollen, dass rechtschaffene Bürger zu nachtschlafender Zeit durch das Geschrei eines Trunkenboldes gestört würden – und habe ihn deshalb auf Vahles Geheiß hin ins Gefängnis gebracht“, so Steinheims Chronistin. Zum Schluss betont der Bürgermeister, dass er gesetzlich das Recht hätte, jeden Unruhestifter für 24 Stunden in Arrest zu nehmen und Walbaum sicherlich auch keinen großen Schaden für die kurze Zeit im Bürgerzwang erlitten hätte. &bdquo;Auf die Ereignisse im Gefängnis selbst, für die der Beschwerdeführer sogar Zeugen benannt hatte, ging der Bürgermeister allerdings nicht ein“, so Sternberg-El Hotabi, &bdquo;man gewinnt deshalb den Eindruck, dass die Aufseher des Bürgerzwanges durchaus die Gelegenheit genutzt haben könnten, ihre Abneigung gegen besagten Kaufmann durch allerlei Scherze zum Ausdruck zu bringen“.

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