Fallersleben-Rede in Corvey: Ein Kinderbuchautor auf Hoffmanns Spuren

Höxter. So etwas hatte der ehrwürdige Kaisersaal in Schloss Corvey noch nicht erlebt bei der Fallersleben-Rede, die immerhin zum 20. Mal gehalten wurde: Layla Ajib, Kristina Altarsha und Amina Yusopova erfüllten einen Wunsch des Festredners und sangen – an der Gitarre begleitet von Schulleiterin Bettina Becker – das, worüber der Redner anschließend sprach: Kinderlieder aus der Feder von Hoffmann von Fallersleben. Evergreens in Kinderzimmern noch heute. Die Schülerinnen der Schule am Nicolaitor sorgten mit ihrer unbefangen-fröhlichen Darbietung von &bdquo;Alle Vögel sind schon da“ und Kuckuck ruft’s aus dem Wald“ für viel Beifall und viel Lächeln in den Gesichtern der 125 Zuhörer. Denn der 20. Redner ist Kinder- und Jugendbuchautor: Herbert Günther, Übersetzer, Lektor und Buchhändler, wollte eine andere Seite des Dichters und Bibliothekars zeigen. Ein &bdquo;neues Kapitel“ in der Geschichte der Veranstaltung aufschlagen, wie es Bürgermeister Daniel Hartmann formulierte. Und eine &bdquo;Seite Hoffmanns näherbringen, die sich in den bisherigen Reden kaum widergespiegelt hat“. Denn: &bdquo;August Heinrich Hoffmann von Fallersleben war vieles und eben auch ein erfolgreicher Kinderliederautor“. Auch wenn der das zu seiner Zeit so wohl nicht gesehen hätte. &bdquo;Kindermusik und Kinderliteratur kann auch eine Zeitreise sein.“ Und was über alle Jahrzehnte hinweg gelte: &bdquo;Bildung braucht Bildungsbücher.“ Dem stimmt der Festredner – bekannt als Autor der Fernsehserie &bdquo;Neues aus Uhlenbusch“ – zu. Und er gab zu: Vor der Rede &bdquo;wusste ich über Hoffmann von Fallersleben nicht viel mehr als wohl die meisten Leute“. Das Dazulernen habe ihm Freude gemacht, bekannte der 76-Jährige aus Friedland bei Göttingen, der Persönliches und Geschichtliches, Sprünge zu James Krüss auf Helgoland, in die eigene Kindheit oder in die veränderte Medienlandschaft mit in die Rede einflocht. Fallerslebens Lieder seien – ähnlich wie Fallerslebens wissenschaftliches Arbeiten – &bdquo;Ausdruck von spontaner Lebensfreude und Naturliebe“: In dem körperlich großen Mann habe offenbar zeitlebens ein großes Kind gesteckt, das sich mit seinem Geradeausdenken selbst in Schwierigkeiten gebracht habe. &bdquo;Hyperaktiv“, &bdquo;arbeitswütig“, begeisterungsfähig“ und &bdquo;von Kopf bis Fuß von Gefühlen bestimmt“: So charakterisierte Günther seinen Kollegen von einst. &bdquo;Zweifellos war er ein Mensch mit Ecken und Kanten.“ Wenn das Pendel der Gefühle in Hass umschlägt Seine sehr politischen Lieder etwa habe er in der Sammlung als &bdquo;Unpolitische Lieder“ betitelt und der Willkürherrschaft seiner Zeit die Freiheitsliebe entgegengesetzt. Günther wünscht sich, dass in heutigen öffentlichen Diskursen &bdquo;mehr von der Hoffmannschen Leidenschaft, vom Brennen für den Kern unserer demokratischen Gesellschaft spürbar wäre“. Doch könne das Pendel der Gefühle auch leicht in Hass umschlagen, mahnte Günther. &bdquo;Mit Erschrecken sehe ich, wie in unseren Tagen Politikerinnen und Politikern, die sich redlich bemühen, Lösungen für drängende Zukunftsfragen zu finden – Lösungen, die zwangsläufig Einschnitte in den privaten Wohlstand erfordern – der blanke Hass entgegenschlägt.“ Schon einmal habe das &bdquo;verführte Gefühl“ in die größte Katastrophe der deutschen Geschichte geführt: &bdquo;Damals standen wir am anderen Ende von Demokratie und Freiheit“, sagte er und sprach von Angst und Schrecken oder untertänigem Gehorsam, mit denen alle Lebensgeister erlöschen würden. Vom Wissen der Welt auf dem Präsentierteller Deshalb, so plädierte der Autor, gehörten Verstand und Gefühl stets zusammen. Schließlich liege wie noch nie in der Menschheitsgeschichte &bdquo;das Wissen der Welt vor uns auf dem Präsentierteller. So gut wie alles können wir uns ergoogeln. Zur natürlichen Intelligenz kommt nun noch die künstliche.“ Und deshalb sein Plädoyer für Achtsamkeit: &bdquo;Freiheit geht nicht ohne Verantwortung. Wir wissen immer mehr – könnten es jedenfalls –, aber verstehen wir auch immer mehr?“ Die Frage von mehr Quantität und mehr Qualität stellte er in den Raum. Und brach eine Lanze für das Lesen als &bdquo;Schlüssel für die große Schatztruhe von Wissen und Poesie“: &bdquo;Meiner Erfahrung nach ist das alte Medium Buch gegenüber der Flüchtigkeit und Rasanz der digitalen Medien das demokratischere: Es lässt uns die Zeit und die Freiheit, die Geschwindigkeit der Aufnahme des Neuen und das Nachdenken darüber selbst zu bestimmen.“ Das Pendel der Gefühle war und sei noch immer in Bewegung, das Vertrauen in Demokratie schwinde und autoritäre Gesellschaftsmodelle fänden Zulauf: &bdquo;Noch haben wir mit Verstand und Leidenschaft, die Möglichkeit, mitzubestimmen, in welche Richtung es ausschlagen soll.“ Dotation und Spende Die Fallersleben-Plakette ist mit einem Betrag von 3.000 Euro dotiert, den die Verbund-Volksbank bereitstellt. Statt gegen Eintrittsgeld werden die Karten zur Rede stets gegen eine Spende herausgegeben, die für einen vom Redner gewählten guten Zweck bestimmt ist. Auf Wunsch von Herbert Günther gehen die Spenden an die weltweite Nicht-Regierungsorganisation &bdquo;Reporter ohne Grenzen“. Nach Angaben des Bürgermeisters wurden 3.000 Euro gespendet. Rückblick und Dank Die 20. Rede nahm Michael Stoltz (Fallersleben-Arbeitskreis) zum Anlass, allen Beteiligten Danke zu sagen. Er erinnerte an Franz Albrecht Herzog von Ratibor, der Roman Herzog bei der Premiere 2002 begrüßt hatte, an Landrat Hubertus Backhaus und den Begründer Michael Bludau, der weitsichtig damals 20 Medialen bestellt habe und Menschen finden wollte, die Hoffmans vielschichtiges Werk und Leben kritisch betrachten und einen Bogen ins Heute spannen.

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