"Ich war sofort voll gefordert": Landrat Michael Stickeln im Interview

Herr Stickeln, das erste Jahr als Landrat im Kreis Höxter – in drei Adjektiven.Michael Stickeln: Herausfordernd: Die Pandemie hat uns vor immer wieder neue Herausforderungen gestellt. Die Infektionsdynamik wird uns auch weiterhin viel abverlangen. Engagiert: Mit Begeisterung arbeite ich mit vollem Einsatz von früh bis spät für die Menschen in unserem Heimatkreis Höxter. Dynamisch: Wir haben zahlreiche zukunftsweisende Projekte zu den Themen Gesundheit, Mobilität, Breitbandausbau, Digitalisierung und Klimaschutz auf den Weg gebracht. Der Umgang im Kreis Höxter mit dem Missbrauchsskandal in Lügde hat große öffentliche Kritik ausgelöst. Insbesondere aus dem Untersuchungsausschuss in Düsseldorf. Was hätten Sie aus ihrer Sicht anders machen sollen?Der Untersuchungsausschuss erfüllt eine sehr wichtige Aufgabe und hat angekündigt, noch vor der Landtagswahl im kommenden Mai den Abschlussbericht vorzulegen. Wir haben die Ausschussarbeit von Beginn an vollumfänglich unterstützt und darüber hinaus zwischenzeitlich ein externes Gutachten in Auftrag gegeben, um die Jugendamtsarbeit weiter und nachhaltig zu optimieren. Es hilft allerdings niemandem, diese für den Kinderschutz so wichtige Aufarbeitung parteipolitisch zu instrumentalisieren. Falsche Beschuldigungen, die einzelne Ausschussmitglieder an Medien herangetragen haben, sind trotz Richtigstellung und klarer Zurückweisung durch die Staatsanwaltschaft nicht zurückgenommen worden. Das ist der Sache nicht dienlich. Das Thema ist und bleibt Chefsache. Drei Dinge, auf die Sie in diesem ersten Amtsjahr stolz sind? Stolz ist keine meiner Wesenseigenschaften. Vielmehr bin ich dankbar und glücklich über Positives. So freue ich mich, dass wir uns bei Bund und Land sehr erfolgreich um wichtige und zukunftsweisende Projekte beworben haben und in den kommenden Jahren mit Fördermitteln gute Entwicklungen vorantreiben können. Von Herzen dankbar bin ich für das überwältigende Engagement im Ehren- und Hauptamt bei uns im Kreis Höxter, gerade in dieser herausfordernden Zeit. Mein besonderer Dank gilt auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kreisverwaltung, die sich über ihren eigentlichen Aufgabenbereich hinaus für die Pandemiebewältigung eingesetzt haben. Ebenso dankbar bin für die gute, erfolgreiche und zielorientierte Zusammenarbeit im Kreistag mit nahezu allen Fraktionen. Was nervt Sie und ist ganz anders als gedacht? Oder hat Sie am meisten überrascht an Ihrem Job?Die Herausforderung der Pandemiebewältigung hat mir keine Zeit gelassen, zunächst einmal anzukommen. Ich war sofort voll gefordert. Überrascht hat mich, wie schnell ich mich in die neue Aufgabe eingearbeitet habe. Dabei sind mir sicher die Erfahrungen aus meiner 16-jährigen Amtszeit als Bürgermeister und meinem kreisweiten Einsatz als Sprecher der Bürgermeister der zehn Städte zugutegekommen, so dass ich zügig mit allen Themen vertraut war. Auch bin ich im Kreishaus vom ersten Tag an sehr gut aufgenommen und bei der Einarbeitung engagiert unterstützt worden. Viele Menschen bewegt der Klimawandel. Was tut der Kreis Höxter aktuell mit Blick auf noch mehr Klimaschutz – und wo sehen Sie nachhaltige Ansatzpunkte für noch mehr Engagement? Ganz aktuell: Als erster Kreis in Deutschland wollen wir &bdquo;Zero Waste Region“ werden. &bdquo;Null Abfall“ ist dabei natürlich nicht wörtlich zu nehmen, das wäre lebensfremd. Unser Ziel ist es, das Abfallaufkommen im Kreis Höxter mit breiter Beteiligung noch weiter und zwar deutlich zu reduzieren. Am besten ist natürlich Abfall, der gar nicht erst entsteht. Ich freue mich, dass der Kreistag geschlossen dahintersteht. Denn gerade dieses Projekt liegt mir auch persönlich sehr am Herzen. Die Registrierung beim europäischen Zero-Waste-Programm ist auf dem Weg. Darüber hinaus haben wir in den letzten Jahren schon viel erreicht, heizen die kreiseigenen Gebäude mit nachwachsenden Rohstoffen, bauen die Nutzung von Solarenergie weiter aus, haben derzeit fünf E-Autos im allgemeinen Fuhrpark, Ladesäulen für E-Bikes und E-Fahrzeuge und setzen weiter unser ambitioniert Klimaschutzkonzept um. Abrufbusse, Car-Sharing, Stadttaxi, Mobilstationen – es gibt im Kreis Höxter einige aber noch sehr kleine Initiativen zur Mobilitätswende. Zugleich werden sich die Städte in den kommenden Jahren mit der nph-Umstrukturierung aufs Gemeinwohl den öffentlichen Busverkehr in der bisherigen Form nicht mehr leisten können. Was kann der Kreis Höxter tun, damit in Sachen Mobilität ein großer Wurf gelingt?Gemeinsam mit acht Städten wollen wir ein Car-Sharing-System im Kreis Höxter aufbauen. Mit diesem Vorhaben sind wir beim landesweiten Wettbewerb &bdquo;Teil-Land-NRW – Car-Sharing in der Fläche“ als eine von acht Regionen ausgewählt worden. Nun geht es darum, einen Anbieter zu finden, um das System zu etablieren, mit dem Autos gebucht werden können, die man dann für Fahrten nutzen kann. Das Projekt versteht sich als gute Ergänzung zum öffentlichen Personennahverkehr und innovativen Angeboten wie dem Holibri in Höxter, der seine Fahrgäste abholt und zum Ziel bringt und mit dem Smartphone app-basiert bestellt werden kann. Moderne Mobilität ist ein wichtiges Thema für den ländlichen Raum. Die Strukturen des nph wollen wir mittels eines externen Gutachtens gemeinsam mit dem Kreis Paderborn und gegebenenfalls der Stadt Paderborn als eigenständigem Verkehrsträger im Hochstift überprüfen, um ihn zukunftsfähig, aber auch finanzierbar aufzustellen. Was ist &bdquo;typisch Stickeln“ im Kreis Höxter geworden, also wo ist Ihre Handschrift erkennbar?Es ist mir sehr wichtig, die Bürgerinnen und Bürger schnell und umfassend zu informieren sowie für sie direkt erreichbar und ansprechbar zu sein, auch über die sozialen Medien. Ich glaube, dass mir dies tatsächlich sehr gut gelingt. Wie zufrieden sind Sie mit der Kreistagsarbeit?Der Kreistag mit sieben Fraktionen beziehungsweise Parteien hat sich nach der Kommunalwahl 2020 sehr zügig und engagiert zum Wohle der Menschen an die Arbeit gemacht. Fachausschüsse und Kreistag haben nach intensiven Beratungen viele wichtige Entscheidungen getroffen. Wie beurteilen Sie die Auswirkungen von Corona ganz konkret auf den Kreis? Wo gibt es die schlimmsten Einbrüche, wo ist man mit dem blauen Auge davongekommen?Deutlich geworden sind die Stärken des ländlichen Raums und der großartige menschliche Zusammenhalt. Erfreulich robust zeigt sich der Arbeitsmarkt mit einer Arbeitslosenquote von derzeit 3,1 Prozent – das ist nahezu Vollbeschäftigung. Einige Branchen wie Einzelhandel, Gastronomie, Kultur, Veranstalter oder Schausteller sind durch die Pandemie besonders schwer belastet. In der gewerblichen Wirtschaft – Industrie, Handwerk – sehen wir überwiegend volle Auftragsbücher und ein positives Investitionsklima. Viele heimische Unternehmen haben diese Zeit genutzt, um ihre Wettbewerbsfähigkeit durch nachhaltige Investitionen in das eigene Unternehmen zu stärken. Getrübt wird dies zum Teil durch Lieferengpässe und Fachkräftemangel. Die digitale Infrastruktur mit Glasfaser bis an jede Haustür haben Sie vor Ihrer Wahl als eines der wichtigsten aktuellen Themen ausgegeben. Was konnten Sie bisher konkret erreichen? Auf mehr als 95 Prozent der Kreisfläche verfügen wir bereits über eine gute Grundversorgung mit bis zu 100 Mbit/Sek. Für einen Netzzugang im privaten und beruflichen Bereich reicht diese Bandbreite derzeit meist noch aus. Im kommenden Jahr geht es dann einen weiteren großen Schritt voran. Wir werden 2022 ein Markterkundungsverfahren durchführen, um beginnend ab 2023, letzte graue Flecken mit Fördermitteln zu schließen. Gemeinsames Ziel aller Kommunen ist es, Glasfaser mittelfristig bis in jedes Haus zu bringen. Dinge, die auf jeden Fall zuerst für 2022 auf der Agenda Stickeln stehen?Ganz oben auf der Agenda steht die zukünftige Entwicklung des Öffentlichen Personennahverkehrs im Hochstift. Es freut mich sehr, dass der Kreistag einhellig dem Antrag der CDU-Fraktion zugestimmt hat, zusammen mit dem Kreis Paderborn ein Gutachten zur Organisationsstruktur und Wirtschaftlichkeit des ÖPNV in Auftrag zu geben. Zum Beginn des neuen Jahres gilt es, das gemeinsame Vorgehen mit unseren zehn Kommunen und unserem Nachbarkreis abzustimmen. Daneben bleibt natürlich auch zu Beginn des Jahres 2022 das wichtigste Thema die Bewältigung der Corona-Pandemie. Wo wird sich der Kreis Höxter 2022 besonders verändern?Wir werden touristische Leuchttürme weiterentwickeln und verknüpfen. Die Realisierung vielfältiger Regionale 2022-Projekte wird Früchte tragen. Ein Beispiel ist das Millionenprojekt &bdquo;Weser erfahren – Natur erleben“ mit dem Ziel, die touristische Erlebnisqualität der Weserlandschaft weiter deutlich aufzuwerten. Mit der neu gestalteten Weserpromenade in Beverungen und dem derzeit entstehenden Gelände der Landesgartenschau 2023 wird der Weserradweg, einer der schönsten und beliebtesten Radwanderwege Deutschlands, noch attraktiver werden. Wir werden noch familienfreundlicher durch den weiteren Ausbau der Kindertagesbetreuung und der Bildungsregion. Wir werden noch nachhaltiger durch weitere Photovoltaikanlagen auf den Dächern kreiseigener Gebäude und den Start der Kampagne &bdquo;Waste Zero Region“ mit dem Ziel, Abfall so weit wie möglich zu vermeiden. Wir werden noch digitaler, indem wir weitere Dienstleistungen für die Bürgerinnen und Bürger online und damit zeitgemäß zugänglich machen. Wo hat er das 2021 getan?Wir haben gemeinsam mit vielen hauptamtlich und ehrenamtlich Aktiven eine vorbildliche Impfkampagne umgesetzt. Rund 90 Prozent der Erwachsenen im Kreis Höxter sind bereits vollständig geimpft. Rund 57 Prozent sind bereits geboostert. Mit dieser hohen Impfquote liegen wir über dem Bundesdurchschnitt. Dafür gilt allen, die sich dafür eingesetzt haben, mein herzlicher Dank. Auch wenn Corona das beherrschende Thema war, haben wir auch in anderen Bereichen viel erreicht. Nur drei Beispiele: Fast sechs Millionen Euro fließen im Rahmen der Bundesförderung &bdquo;Smart Cities – Made in DE“ in die Umsetzung von Digitalisierungsprojekten im Kreis Höxter. Wir sind vom NRW-Landwirtschaftsministerium aufgrund unserer sehr guten Bewerbung als Ökomodellregion ausgewählt worden, um regionale Wirtschaftskreisläufe zu stärken, also kurze Wege zwischen Erzeuger und Verbraucher weiter auszubauen. Im Bundesprojekt &bdquo;Dorf-Gesundheit-Digital“ geht es um die Gesundheitsversorgung der Zukunft mit Hilfe digitaler Technologien im ländlichen Raum; eine wichtige Entwicklung für den Kreis Höxter. Ihre größte Freude und Ihre größte Enttäuschung im ersten Amtsjahr?Was mich sehr gefreut hat, ist große Solidarität bei uns im Kreis Höxter. So waren, nachdem wir das Impfzentrum in Brakel eröffnet hatten, 200 Bürgerinnen und Bürger spontan bereit, Senioren und Hilfsbedürftige zum Impfen zu begleiten. Traurig bin ich über das Leid, das Corona über viele Familien – aber auch wirtschaftlich über so manche Branche – gebracht hat. Den Familien gilt mein tief empfundenes Mitgefühl. Der neue Regionalplan lässt für Dörfer kaum noch Entwicklungsmöglichkeiten zu. Neue Baugebiete werden fast unmöglich gemacht. Wie lässt sich der Todesstoß für die Ortschaften verhindern? Wir erleben gerade eine Renaissance des ländlichen Raums. Das Dorf wird zunehmend auch von Großstädtern wieder als äußerst attraktiver Lebensraum wahrgenommen. Das freut mich sehr. Durch die Corona-Pandemie ist dieser Trend eher noch verstärkt worden. Der neue Regionalplan räumt den hierfür zuständigen Städten bei der Flächenausweisung im Rahmen der kommunalen Bauleitplanung sogar mehr Flexibilität und Entscheidungskompetenzen ein. Darüberhinausgehende Entwicklungsmöglichkeiten der Ortschaften sind im übergeordneten Landesentwicklungsplan geregelt. Auch der lässt bei nachgewiesenem Bedarf die Ausweisung von neuen Baugebieten in den Ortschaften weiterhin zu, wobei wie bisher auch die Erfordernisse der Landschaftsentwicklung und des Erhalts der landwirtschaftlichen Nutzfläche zu berücksichtigen sind. Die Zukunftsentwicklung unserer Dörfer ist also weiterhin machbar und wird auch nachhaltig forciert. Eine Bilanz von Ihnen über sich selbst: Wo stehen Sie heute als Kommunalpolitiker und Mensch, wo und wie haben Sie sich verändert?Ich stehe mit beiden Beinen fest im Leben in meinem Heimatkreis Höxter, für den und dessen Menschen ich mich mit voller Leidenschaft und ganzer Kraft engagiere. Als Landrat bin ich – wie schon in meiner Zeit als Bürgermeister – ein nahbarer Mensch geblieben, zugewandt und authentisch. Das ist und bleibt mir wichtig. Welche Überschrift wollen Sie selbst über das zweite Jahr Ihrer Amtszeit setzen?Generell würde ich mir in allen Zeitungen die Überschrift wünschen: &bdquo;Corona-Pandemie ist beendet.“

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