Leiter des Krisenstabs Höxter: "Strukturen für längere Pandemie-Situation schaffen"

Kreis Höxter. Mit den ersten Lockerungen der Pandemie-Maßnahmen kehr ein wenig Normalität in den Alltag der Menschen zurück. Doch überstanden ist die Situation rund um das neuartige Coronavirus noch lange nicht. Zum aktuellen Stand äußern sich der Leiter des Krisenstabes Gerhard Handermann und der Leiter des Kreisgesundheitsamtes Ronald Woltering im NW-Interview. Herr Handermann, wie ist aus Ihrer Sicht als Krisenstableiter die Corona-Lage im Kreis Höxter bislang verlaufen? Gerhard Handermann: Ende Februar 2020 sind die ersten bestätigten Corona-Infizierungen auch in Ostwestfalen-Lippe aufgetreten. Bereits zu dieser Zeit hat der Landrat in der Kreisverwaltung eine Arbeitsgruppe aktiviert. Seit Anfang März arbeiten wir beim Kreis in Krisenstabsstruktur. Hier arbeiten die Fachabteilungen des Kreises mit externen Beratern zusammen. Die Behördenleitung hat die Arbeitsweise der Kreisverwaltung auf die aktuelle Pandemie-Lage zugeschnitten. Beim Krisenstab laufen alle Fäden zusammen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der gesamten Kreisverwaltung wirken engagiert mit, um die notwendigen Maßnahmen zügig umzusetzen. Wie ging es weiter? Handermann: Die Entwicklung nahm dann einen sehr dynamischen Verlauf. Zunächst lag der Fokus auf Reiserückkehrern aus Risikogebieten, um bei diesen Personen die Testung auf eine Infizierung mit dem Corona-Virus vorzunehmen, Kontaktpersonen zu ermitteln und bei positiver Testung die Quarantäne zu verfügen. Heute liegt der Schwerpunkt im Bereich Pflege, Pflegeeinrichtungen und Pflegeheime. Von Anfang an gab es in der Corona-Lage einen intensiven Austausch, insbesondere mit der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe und den Städten im Kreis Höxter. Die Überlegungen vor Ort, was die Durchführung von Veranstaltungen angeht, wurden dann durch landesrechtliche Verfügungen und Verordnungen geregelt. Herr Doktor Woltering, wie beurteilen und bewerten Sie als Leiter des Gesundheitsamtes den derzeitigen Stand der Infektionszahlen? Ronald Woltering: Wir beobachten auch im Kreis Höxter einen Rückgang der positiv getesteten Personen, so dass man vorsichtig optimistisch sein darf. Die Auswirkungen der jetzigen Lockerungen werden erst in einigen Wochen messbar sein. Bis dahin können keine Prognosen abgegeben werden. Bislang gibt es sieben Menschen, die am Corona-Virus gestorben sind. Können Sie ausschließen, dass es weitere Verstorbene gibt, die das Virus hatten? Es wird doch sicherlich nicht jeder, der im Kreis Höxter stirbt, auf Corona getestet werden. Woltering: Aktuell sind sieben Menschen im Kreis Höxter mit einem positiven Coronavirus-Nachweis verstorben. Man kann davon ausgehen, dass weitere Personen im Zusammenhang mit dem Virus versterben werden. Die Entwicklung wird wesentlich davon bestimmt sein, ob besonders empfindliche Personen, zum Beispiel in Altenpflegeheimen, durch das Virus erreicht werden oder inwieweit es durch Schutzmaßnahmen gelingt, dies zu vermeiden. &bdquo;Die Testkapazitäten werden derzeit nicht ausgenutzt" Wie hat sich Situation in Sachen Tests und deren Verfügbarkeit verändert? Testen Sie heute mehr als noch vor vier bis sechs Wochen? Oder anders? Woltering: Die Testungen werden auch im Kreis Höxter durch die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) mit Unterstützung des Kreises durchgeführt. Zeitweise wurden der mobile Dienst, der stationäre Diagnosedienst und die Entlastungspraxis zeitgleich betrieben. Einhergehend mit dem Rückgang der Infektionszahlen und der deutlich besseren Verfügbarkeit von persönlicher Schutzausrüstung für die Ärztinnen und Ärzte im Kreis Höxter wurden die Dienste durch die KVWL eingeschränkt. Der mobile Dienst wird derzeit nicht mehr betrieben, dafür unterstützt der Kreis Höxter ärztliche Hausbesuche in Pflegeheimen und in der ambulanten Pflege durch zusätzliche Schutzausrüstung für die Hausärzte. Die Testkapazitäten werden derzeit nicht ausgenutzt. Besonders schutzbedürftige Personen sollen zukünftig vor einer belastenden Krankenhausbehandlung oder einem operativen Eingriff vorsorglich über die Hausärztin und Hausärzte getestet werden. Damit dürfte die Auslastung des stationären Dienstes wieder steigen. Gemeinsam mit den Ärztinnen und Ärzten der KVWL haben wir eine gute Routine der Zusammenarbeit entwickelt, so dass wir bei einer Verschlechterung der Situation auf die erprobten Strukturen zurückgreifen können. Abstandsregeln weiterhin wichtig Wie zufrieden – oder nicht zufrieden – sind Sie mit dem Verhalten der Bevölkerung – auch in Sachen Mund-Nasen-Schutz und Abstandsregeln? Woltering: Die außerordentlich sinnvollen Abstandsregeln, die ganz wesentlich zu einem Rückgang der Infektionszahlen geführt haben, werden nach meinen Beobachtungen nicht mehr konsequent eingehalten. Viele Menschen glauben, dass mit dem Tragen von Schutzmasken das Abstandsgebot überflüssig geworden ist. Das ist nicht der Fall. Ich würde mir wünschen, dass der persönliche Abstand wieder mehr Bedeutung in unserem Alltag gewinnen wird. Wir sollten uns generell an mehr Abstand gewöhnen, um auch andere Infektionserkrankungen, wie zum Beispiel Influenza, besser kontrollieren zu können. Hat sich die Situation bei der Versorgung mit Schutzkleidung und Desinfektionsmitteln in Krankenhäusern und Altenheimen, aber auch in Arztpraxen und generell bei Masken entspannt? Wo und wie kann die Bevölkerung helfen? Woltering: Die Versorgungssituation mit Schutzkleidung und Desinfektionsmitteln in Krankenhäusern und Altenheimen hat sich wesentlich entspannt. Die Situation in den Arztpraxen ist für uns deutlich schwieriger zu beurteilen, von dort bekommen wir unterschiedliche Rückmeldungen. Der Kreis Höxter hat sich daher entschlossen, insbesondere ärztliche Hausbesuche durch zusätzliche persönliche Schutzausstattung zu unterstützen. Im medizinischen und pflegerischen Bereich können sinnvoll nur Schutzkleidung und Desinfektionsmittel eingesetzt werden, die bestimmten Normen genügen. Hier ist eine unmittelbare Unterstützung der Bevölkerung kaum möglich. Wichtig ist, beim Besuch von empfindlichen oder erkrankten Personen konsequent einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen und wenn es nur irgendwie geht, ausreichend Abstand zu bewahren. Die beste Unterstützung der Pflegenden und der Ärztinnen und Ärzte ist die Vermeidung zusätzlicher Infektionen. "Hygiene, Desinfektion, Abstand und Kontaktvermeidung." Handermann: Die Versorgung von Krankenhäusern, Arztpraxen und Pflegeeinrichtungen liegt allerdings auch nicht originär im Zuständigkeitsbereich des Kreises Höxter. Sie sind gefordert, selbst Vorkehrungen zu treffen und ausreichend Schutzkleidung vorzuhalten. Unabhängig davon hat der Kreis Höxter sich von Anfang an um die Beschaffung zusätzlicher Schutzausrüstung, wie entsprechende Schutzmasken, Schutzkittel, Handschuhe, und Desinfektionsmittel bemüht. Die beim Kreis Höxter vorhandene Schutzausrüstung wird auf Anforderung in entsprechenden Notsituationen weitergegeben. So haben wir zuletzt 75.000 Mund-Nase-Schutzmasken zur eigenen Verwendung an die Städte im Kreis Höxter verteilt und Desinfektionsmittel abgegeben. Ebenso haben wir unsere Schutzausrüstung den Pflegediensten und den Pflegeheimen angeboten. Die Bevölkerung kann hier im großen Maß wohl nicht helfen. Was allerdings sehr gut funktioniert, ist die Selbstversorgung der Bevölkerung mit Mund-Nase-Schutz, zum Teil sehr künstlerisch gestaltet, und mit Desinfektionsmitteln. Aus Sicht des Krisenstabes für den Kreis Höxter: Wie bewerten Sie die vorsichtige Öffnung von Schulen/Einzelhandel? Sind weitere Lockerungen möglich, sinnvoll oder gar notwendig? Handermann: Da wir uns alle nach Normalität sehnen, ist auch die verantwortungsvolle und behutsame Öffnung von Schulen und Einzelhandelsgeschäften grundsätzlich zu begrüßen. Derzeit werden weitere Lockerungen, wie zum Beispiel im Tourismus- und Sportbereich, diskutiert. Entschieden werden müssen diese Dinge auf Bundes- oder auf Landesebene. Bei allen Lockerungsmaßnahmen darf aber der Sinn und Zweck der bisherigen Maßnahmen nicht konterkariert werden. So ist weiterhin auf die grundlegenden Dinge zu setzen: Hygiene, Desinfektion, Abstand und Kontaktvermeidung. Wie kann zu schnell zu viel Leichtsinn unterbunden werden? Handermann: Den Menschen ist transparent zu vermitteln, warum gerade welche Maßnahmen getroffen werden und warum gegebenenfalls auch Maßnahmen wieder gelockert werden. Der Sinn und Zweck der Maßnahmen ist kontinuierlich zu kommunizieren. Hinsichtlich der Regelungen und Lockerungen ist im Wesentlichen auch auf die Eigenverantwortung der Bevölkerung zu setzen. Regelungen müssen aber auch eingehalten und kontrolliert werden. Verstöße müssen gegebenenfalls mit Sanktionen bedacht werden. Wie hat sich – ganz persönlich – Ihr Arbeitsalltag und Ihr Leben durch Corona verändert? Ist das Virus mittlerweile Alltag geworden? Handermann: Die Auswirkungen der Corona-Schutzverordnung treffen natürlich auch die Mitglieder des Krisenstabes, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kreisverwaltung und auch den Leiter des Krisenstabes persönlich. Insbesondere die Regelungen zur Kontaktvermeidung und die Verpflichtung, im öffentlichen Personennahverkehr und im Einzelhandel einen Mundschutz zu tragen, betreffen jeden und schränken uns ein. Der Arbeitsalltag ist durch die Krisenstabsarbeit geprägt. Insbesondere die Verarbeitung der Informationsfülle ist eine Herausforderung. Die Arbeitsweisen haben sich zum Teil verändert. So werden die Instrumente der Videokonferenz und Telefonkonferenzen genutzt, und auch das mobile Arbeiten hat einen richtigen Schub erfahren. Ganz persönlich vermisse ich die sportliche Betätigung in meinem Fitnessstudio. Hier hoffe ich, dass dort der Betrieb bald wieder sicher aufgenommen werden kann. Die Kontaktbeschränkungen treffen uns alle hart, und auch das Tragen von Mundschutz beim Einkaufen ist gewöhnungsbedürftig. Wie sieht der Tagesablauf jetzt aus? Wie oft trifft sich der Krisenstab, und wie sieht die Kommunikation aus? Handermann: Der Tagesablauf ist durch die Auswertung der vielen Informationsquellen sowie der sich daraus ergebenden vielfältigen Aufgaben und Gesprächsrunden in verschiedenster Zusammensetzung geprägt. Entscheidungen sind vorzubereiten und zu treffen. Das Arbeiten in Krisenstabsstrukturen hat unter anderem zur Folge, dass eine Vielzahl unterschiedlicher Bereiche der Kreisverwaltung eng zusammenwirkt. Bisher hat der Krisenstab 19-mal getagt. Welches waren anfangs die größten Probleme oder häufigsten Fragen im Stab, welche sind es jetzt? Handermann: Am Anfang waren es die rasant ansteigenden Fallzahlen. In kurzer Zeit haben wir mit der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe einen mobilen und stationären Diagnosedienst und ein ambulantes Behandlungszentrum für Atemwegsinfekte aufgebaut. Im Zuge der zunehmenden Einschränkungen zur Vermeidung der weiteren Ausbreitung des neuartigen Coronavirus wurden Veranstaltungen abgesagt, Schulen und Kindertagesbetreuungseinrichtungen geschlossen, Notbetreuungen eingerichtet und in den Verwaltungen der Besucherverkehr anders organisiert. Von Anfang an war auch das Thema Schutzausrüstung auf der Tagesordnung sowie die Veränderungen im Betrieb der Kreisverwaltung selbst. So haben wir frühzeitig die Leistungen des Straßenverkehrsamtes neu geordnet und Maßnahmen zum Mitarbeiter- und Kundenschutz getroffen. Die gute Zusammenarbeit mit den Städten, der Kassenärztlichen Vereinigung und den Akteuren im Gesundheits- und Pflegebereich hat sich in dieser außergewöhnlichen Lage besonders bewährt. Ebenso haben Unternehmen Hilfe geleistet, zum Beispiel durch die Bereitstellung von Desinfektionsmitteln. Auch konnten Bürgerinnen und Bürger auf die Leistungsfähigkeit der kommunalen Verwaltungen vertrauen. Nach der Konsolidierungsphase der Krisenstabsarbeit ist jetzt der Blick weiter nach vorne gerichtet, und wir sind dabei, die Strukturen für eine länger andauernde Pandemie-Situation zu schaffen. Insbesondere geht es um die personelle Ausstattung im Bereich des Gesundheitsamtes, damit auf Dauer und verlässlich auf die Herausforderungen der Corona-Pandemie reagiert werden kann. "Diese Krise gemeinsam meistern." Welche Fragen und Unsicherheiten sind es bei der Bevölkerung? Klingelt das Telefon noch weiterhin hundertfach am Tag? Handermann: Zu Beginn der Coronaepidemie hatten wir eine Vielzahl telefonischer Nachfragen, teilweise mehrere 100 Telefonate pro Tag, die mehrfach zu einem Zusammenbruch der Telefonanlage geführt haben. In dieser ersten Phase konnten wir aufgrund der massiven Überlastung nicht allen Anfragen gerecht werden. Inzwischen ist die Zahl der Nachfragen auf ein überschaubares Maß gesunken. Wir haben dennoch täglich vielfältige Telefonkontakte zwischen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Gesundheitsamtes und positiv getesteten Personen sowie Kontaktpersonen. Die Kontaktpersonen nach Verfolgung und die Gespräche mit den Betroffenen werden ja weitergeführt. Viele Fragen befassen sich jetzt mit der Auslegung der zum Teil recht komplizierten Regelungen zur Lockerung der verordneten Maßnahmen. Ist es absehbar, wie lange ein solcher Krisenstab notwendig ist und aufrechterhalten werden muss – oder gilt bislang die Devise &bdquo;bis auf Weiteres", weil niemand sagen kann, wie die nächste Woche oder der nächste Monat aussehen wird? Handermann: Für die gegenwärtige Situation gibt es weder ein Drehbuch noch eine Blaupause, und auch die Experten können nicht verlässlich vorhersagen, wie lange die Pandemie weiter andauern wird. Die Hoffnung liegt insbesondere auf der Entwicklung von Behandlungsmethoden und auch eines Impfstoffes. Wann beides zur Verfügung stehen kann, ist bisher nicht klar, so dass wir weiterhin im Interesse und zum Schutz der Menschen die Krisenstabstruktur aufrechterhalten. Auch und gerade in Krisensituation muss sich die Bevölkerung auf ihre Kreis- und Stadtverwaltungen verlassen können. Hervorzuheben ist die Wahrnehmung der Eigenverantwortung in der Bevölkerung. Denn nur durch die Mitwirkung und die Disziplin jedes Einzelnen können wir diese Krise gemeinsam meistern.

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