Die „vergessenen“ Mädchen: Arzt aus Bad Driburg sensibilisiert für ADHS und ADS

Kreis Höxter/Bad Driburg. Immer Vollgas geben – ohne Bremse: Was schon bei der reinen Vorstellung aufreibend und anstrengend klingt, ist für Menschen, die an ADHS erkrankt sind, innerlich Alltag. Pausenlos. Hat man als kerngesunder Mensch schon so manches Mal das Gefühl, an der Kapazitätsgrenze zu sein, weil einfach eine so große Vielzahl an Infos und Eindrücken einströmt, richten diese äußeren Einflüsse bei ADHS-Betroffenen ein ziemliches Chaos an. &bdquo;Kirmes im Kopf“, hat es beispielsweise jüngst die junge Autorin und Betroffene Angelina Boerger in ihrem gleichnamigen Buch genannt. Und auch Gerhard Broer, in Bad Driburg Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, möchte verstärkt für die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung, kurz eben ADHS, sensibilisieren: Zwar habe die Krankheit schon enorm an Aufmerksamkeit gewonnen, doch noch immer würden viele Betroffene vergessen – vor allem erkrankte Mädchen und Frauen. Und: Für Ärzte gibt es schlichtweg Lukrativeres, als sich mit ADHS-Patienten zu befassen. In Dr. Saatis Praxis: &bdquo;Wie die Jungfrau zum Kinde“ ADHS ist einer seiner Fachbereiche geworden – und dazu sei er einst ein bisschen &bdquo;wie die Jungfrau zum Kinde“ gekommen, erzählt Broer selbst. Im Kreis Höxter gab es seinerzeit keinen Kinder- und Jugendpsychiater und man brauchte dringend jemanden, der sich intensiver mit dem Krankheitsbild der ADHS auseinandersetzt und die verhaltensauffälligen Kinder versorgt. Als Neuankömmling in der damaligen Höxteraner Praxis von Doktor Saati wurde Broer mit dieser Aufgabe betraut: Er kümmerte sich, besuchte viele Fortbildungen. Inzwischen ist seine eigene Praxis in Bad Driburg zur ADHS-Schwerpunktpraxis geworden, und er selbst zudem stellvertretender Vorsitzender der ärztlichen Arbeitsgemeinschaft ADHS (AG ADHS). Jüngst ist er für weitere fünf Jahre in diesem Amt bestätigt worden. Rund 300 Mitglieder fasst diese AG im deutschsprachigen Raum von Deutschland, Österreich, der Schweiz und Liechtenstein, und noch in diesem März ist Broer als Vorstandsmitglied der AG auch Mitorganisator des Internationalen ADHS-Fachkongresses in Hamburg. Dabei im Fokus: &bdquo;AD(H)S – weiblich“. &bdquo;Diese Frauen leben an ihrem Limit“ Denn: &bdquo;Junge Mädchen und Frauen mit ADHS werden immer noch entweder deutlich zu spät oder gar nicht diagnostiziert und therapiert, wie Studien zeigen“, so Broer und die erste Vorsitzende der AG, Kirsten Stollhoff. Die beiden erklären weiter: &bdquo;Der Leidensdruck der Mädchen und Frauen mit undiagnostizierter ADHS ist hoch, sie leben an ihrem Limit und entwickeln nicht selten psychische und psychosomatische Störungen, hinter denen sich ihre ADHS verbirgt“. Zu diesen Störungen können beispielsweise Depressionen und Schwindel gehören. Bei den betroffenen Frauen kommt es oft zu Überforderungen: Sie können sich im Beruf nicht organisieren, brechen Partnerschaften ab. Rund 300 junge ADHS-Patienten pro Quartal Das Interesse an diesem Thema ist groß – was auch der bereits ausgebuchte Kongress in Hamburg belegt. Broer selbst wird dort gemeinsam mit weiteren Fachleuten referieren, denn das Thema ADHS ist ihm &bdquo;eine echte Herzensangelegenheit“, wie er sagt. In seiner Praxis behandelt er rund 300 junge ADHS-Patienten pro Quartal – und das, obwohl diese Behandlungen viel Zeit in Anspruch nehmen. Zeit, die sich nicht jeder Arzt nehmen kann oder möchte. Das &bdquo;Problem“ vieler Ärzte Denn da gibt es ein &bdquo;Problem“: &bdquo;Es ist für Ärzte tatsächlich nicht lukrativ“, sagt Broer. In der Zeit eines ADHS-Gesprächs könne ein Arzt auch zehn Patienten impfen, &bdquo;und der Arzt verdient dabei an jeder einzelnen Impfung – am ADHS-Gespräch verdient er dagegen im Prinzip nichts“, so Broer. Das mache dieses Thema für viele Ärzte leider völlig uninteressant. Dabei: &bdquo;Wir Kinder- und Jugendärzte sind erste Ansprechpartner für betroffene Familien – deshalb sehe ich es sogar als Pflicht an, sich auch mit diesem Thema genauer zu beschäftigen“, so der Driburger Arzt, &bdquo;ansonsten bleiben die betroffenen Kinder unversorgt“. Und wird ein ADHS-Erkrankter nicht behandelt, führt das oft zu enormen (Spät-)Folgen. Gerade bei Mädchen und jungen Frauen findet oft keine Diagnose statt. Doch warum? Warum werden Mädchen oft vergessen? Weltweit sind etwa fünf Prozent aller Kinder und Jugendlichen von der Krankheit betroffen. Die erkrankten Jungen sind oft Zappelphilippe: Sie sind unruhig, unaufmerksam, impulsiv. Sind Mädchen erkrankt, liegt dagegen häufiger eine ADS, ohne Hyperaktivität, vor: Sie sind verträumt, weniger aktiv – ja sogar besonders still und benötigen sehr lange, um Aufgaben zu erledigen. &bdquo;Diese Mädchen sind oft die Vergessenen, weil ihre Erkrankung eben nicht so offenbar ist wie bei den hyperaktiven Jungen“, sagt Broer. Woran lässt sich die Erkrankung erkennen? Oft sind es Erzieher oder Lehrer, die den betroffenen Familien den entscheidenden Impuls geben, sich Rat bei einem Arzt zu suchen. An ADHS-erkrankte Kinder fallen unter anderem dadurch auf, dass sie sich nur wenig konzentrieren und Regeln nicht gut einhalten können, und zusätzlich eine Lese- und Rechtschreibschwäche oder eine Schlafstörung auftaucht. Denn: &bdquo;Für die betroffenen Kinder gibt es einfach viel zu viel an Reizen“, sagt Broer. Ein Beispiel: In einer Schulklasse unterrichtet vorn die Lehrerin, gleichzeitig kippelt ein Schüler irgendwo im Raum mit seinem Stuhl, draußen fährt ein Auto vorbei und an der Wand hängt ein buntes Bild. All diese Eindrücke erreichen das erkrankte Kind – es kann sie im Kopf aber nicht nach Wichtigkeit verarbeiten und Unwichtiges ausblenden, sondern nimmt alle Eindrücke einfach ungefiltert so auf, wie sie gerade auftreten. Das führt zu ziemlichem Chaos im Kopf, und zu einer schnellen Ermüdung, wie Broer sagt. Die Welt der &bdquo;Nicht-ADHS-Hirne“ Was es da braucht, ist eine gute, individuelle Behandlung: Sport, Ergotherapie, Psychotherapie und auch Medizin als Behandlungsbausteine sind mögliche Hilfen, damit sich Betroffene zum Beispiel besser konzentrieren können. Zudem braucht es das Verständnis und eine positive Bestärkung von Eltern und Lehrern. Wichtig ist es auch, weiter für dieses Thema zu sensibilisieren, um mehr Erkrankten frühzeitig helfen zu können, wie Broer betont. Auch Boerger schreibt in ihrem Buch: &bdquo;In einer Welt zurechtzukommen, die von Nicht-ADHS-Hirnen entwickelt wurde und ausschließlich an ihnen ausgerichtet ist, ist für Menschen mit ADHS-Hirn eine mitunter sehr anstrengende Aufgabe“. Deshalb: &bdquo;Um diese Situation zu verändern, braucht es nicht nur jede Menge weiterer Forschung, sondern auch offene Ohren und offene Herzen“.

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