„Wir betrieben Mangelwirtschaft“: Der große Frust einer Erzieherin aus Löhne

Löhne. Jeden Morgen macht sich Melanie P. (Name geändert) auf zu ihrem Arbeitsplatz. Jeden Morgen tauscht sie die Ruhe der heimischen vier Wände gegen ein Gebäude voller Kinder samt Geräuschkulisse und jeder Menge Aufgaben. Und jeden Morgen, so sagt sie, geht ihr dabei das Herz auf. Seit mittlerweile vier Jahrzehnten, Woche für Woche, Tag für Tag. In den letzten Jahren aber hat sich ein kleiner Schatten über ihren Job als Erzieherin in einer Löhner Kindertagesstätte gelegt. Längst hat sich das Gefühl breit gemacht, den Bedürfnissen ihrer Schützlinge im knapp bemessenen Arbeitsalltag nicht mehr gerecht werden zu können. Und das nicht nur wegen der strukturellen Bedingungen, sondern auch wegen einer veränderten Erwartungshaltung. Die Leidenschaft für ihren Beruf ist spürbar, wenn Melanie P. über ihre Arbeit spricht. Die kindliche Freude, die Vermittlung von Werten und Fähigkeiten, die hautnahe Begleitung über Jahre hinweg - &bdquo;das alles sind Glücksmomente, die hängen bleiben und für die ich diese Tätigkeit so liebe“, sagt die Erzieherin. Im Subtext ihrer Worte aber schwingt auch deutlich vernehmbarer Frust mit. Über die Arbeitsbedingungen auf der einen, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auf der anderen Seite. Nicht zuletzt aber auch über den tiefgreifenden Wandel, der ihre Profession schon vor Jahren ereilt hat - und der den Alltag in den Kitas quer durch die Republik nachhaltig prägt. Vom &bdquo;Bonus“ zur Selbstverständlichkeit Früher, so sagt Melanie P., habe ein Kindergarten noch eine familienergänzende Funktion gehabt. Als Ausgleich vom manchmal anstrengenden Zuhause, als Abwechslung für die Kleinen, als Auszeit für die Großen, als Erfahrungsgewinn für beide. &bdquo;Heute hingegen nimmt die Kita eher eine familienersetzende Rolle ein“, sagt die Erzieherin. Aus dem einstigen Bonus, den ein paar Stunden Kita-Zeit mal mit sich brachte, sei längst eine fast schon selbstverständliche Obhut geworden. &bdquo;Manchmal hat man das Gefühl, die Kinder werden einfach nur abgegeben und wir sollen dann bitte mal machen“, sagt Melanie P. Ein Blick in die Statistik erhärtet ihren Verdacht zumindest ansatzweise. Einer Studie zufolge verbrachten Kinder zwischen 3 und 6 Jahren noch zu Beginn der 1990er Jahre im Schnitt etwa 12 Stunden pro Woche in einem Kindergarten. Meist wurde der Nachwuchs allenfalls stundenweise zur Einrichtung gebracht. Heute können - je nach Arbeitsumfang der Eltern - sogar bis zu 45 Stunden Betreuung gebucht werden. Und damit acht Stunden täglich. Dass diese Entwicklung auch einem gesellschaftlichen Wandel geschuldet ist, ist auch Melanie P. durchaus bewusst. Schließlich sind mittlerweile deutlich häufiger beide Elternteile berufstätig - und somit auf externe Betreuungen der Kinder angewiesen. Die Gründe dafür sind durchaus vielschichtig: Fachkräftemangel, demografischer Wandel, der Wunsch nach Selbstverwirklichung in einer emanzipierteren Gesellschaft. Die Rolle des Staates Motive, die für Melanie P. zwar nachvollziehbar und zeitgemäß sind. &bdquo;Wenn aber den Menschen vermittelt wird, sie müssten die Kinder nur bekommen und den Rest macht der Staat, dann funktioniert das nicht“, kritisiert sie die Rahmenbedingungen. &bdquo;Das führt nur dazu, dass der Stellenwert, Eltern zu sein, geringer wird und es immer unwichtiger ist, Zeit für die Kinder zu haben.“ Tatsächlich steigt die Nachfrage nach Kita-Plätzen in Löhne seit Jahren kontinuierlich an. Wurden im Kita-Jahr 2014/2015 noch 1.208 Kinder auf die Einrichtungen der Werrestadt verteilt, sind es im kommenden Jahr bereits 1.422 - trotz rückläufiger Geburtenzahlen. Weil es aber gleichzeitig an Ausstattung und Personal mangelt, habe sich der Arbeitsalltag deutlich erschwert, sagt Melanie P. und rechnet vor: &bdquo;Für 16 bis 20 Kinder bräuchte es mindestens 4 Erzieherinnen. In der Realität sind es aber nur 3 und von denen sind nur selten alle gleichzeitig da“, sagt sie mit Blick auf Krankheitsfälle, Urlaubszeiten oder auch Fortbildungen. In der Folge könne man sich viel weniger um die Kinder kümmern, als es wünschenswert wäre. &bdquo;Wir würden gerne mal mit ihnen einkaufen gehen oder im Garten arbeiten. Schon allein, um ihnen bestimmte Fertigkeiten zu vermitteln“, sagt sie. Im Alltag seien aber oft nicht einmal einfache Aktivitäten wie Fußball zu spielen oder im Matsch spielen möglich. Sehnsucht nach Zeit und Zuneigung &bdquo;Man muss die vielen Kinder schließlich nicht nur beaufsichtigen, sondern auch umziehen, sauber machen und hinter ihnen her räumen.“ Weil das faktisch zu viel Zeit in Anspruch nehme, bestehe der Alltag meist aus grundlegenden Tätigkeiten: &bdquo;Malen, basteln, singen, spielen“, zählt Melanie P. auf, &bdquo;das ist zwar gut, aber eigentlich zu wenig.“ Ganz zu schweigen von den vielen Formalitäten, die das Kita-Personal zu bearbeiten hat. Meist werde die Dokumentation und der Papierkram in den Nachmittagsstunden erledigt, wenn einige Kinder schon zuhause sind und die verbliebenen alleine spielen können. Das verschaffe den Erzieherinnen etwas Luft. &bdquo;Auf der anderen Seite geht dadurch eine Möglichkeit verloren, sich Zeit für die Kinder zu nehmen und mal in Ruhe zu kuscheln oder ein Buch zu lesen.“ Und genau das ist es auch, was Melanie P. am meisten wurmt: Die fehlende Zeit, um den Kindern individuell gerecht zu werden. Die Erzieherin zieht in diesem Zusammenhang einen Vergleich zur Arbeitswelt: &bdquo;Für Kinder ist der Kita-Alltag wie ein Großraumbüro“, sagt sie mit Blick auf die Menge an Menschen, die Geräuschkulisse und die Belastung. &bdquo;Nach 8 Stunden kann man sich vorstellen, wie geschafft die Kleinen dann sind und wie viel Zuneigung sie eigentlich bräuchten. Insbesondere die Unter-3-Jährigen.“ &bdquo;Es ist und bleibt ein toller Beruf“ Dass gerade dieser U3-Bereich immer gefragter werde führe zudem zu weiteren Problemen. Denn die betroffenen Kinder rücken später sicher in den Ü3-Bereich auf. Ältere Kinder von außerhalb bekommen dadurch immer mehr Schwierigkeiten, überhaupt einen Platz zu ergattern. &bdquo;Im Ergebnis melden Eltern ihre Kinder zunehmend schon im U3-Bereich an, obwohl sie es gar nicht müssen oder wollen“, sagt Melanie P. Die Spirale drehe sich so fast unaufhörlich weiter: Immer mehr Kinder auf zu engem Raum, immer weniger Zeit seitens des Personals. Dabei bräuchte es eigentlich das genaue Gegenteil, meint Melanie P.: Kleinere Gruppen, mehr Mitarbeiter, mehr Zeit. Das, so sagt die Erzieherin, wäre deutlich sinnvoller, als immer neue Förderprogramme. &bdquo;Wir könnten Millionen Euro sparen und sie stattdessen in die Grundstrukturen investieren. Stattdessen betreiben wir eine Mangelwirtschaft.“ Und dennoch: Ihren täglichen Arbeitsweg nimmt Melanie P. auch in Zukunft gerne in Kauf. Und auch über die vielen Aufgaben und die Geräuschkulisse sieht sie gerne hinweg. &bdquo;Es ist und bleibt trotz allem ein toller Beruf“, sagt sie. Die Kinder in ihrer Entwicklung zu begleiten, ihnen Normen und Fertigkeiten zu vermitteln, sie mit Kleinigkeiten glücklich zu machen - das alles sei unersetzbar. &bdquo;Es ist nur traurig, dass das nicht mehr so funktioniert, wie früher.“

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