Wenn das Kindeswohl in Gefahr ist: "Lieber einmal zuviel melden"

Löhne. Wie können Kinder besser geschützt werden? Ab wann muss wie in die Familie eingegriffen werden? Das sind Fragen, die erneut gerade im vergangenen Jahr - etwa wegen des Vorgehens der Jugendämter in den Missbrauchsfällen von Lügde - stark in die Öffentlichkeit gerückt sind. Auch darum haben die Landesjugendämter Westfalen und Rheinland ihre Orientierungshilfe für die örtlichen Jugendämter zum 1. Januar aktualisiert - das Verfahren soll einheitlicher, vergleichbarer werden. Die Neufassung hat auch der Löhner Jugendhilfeausschuss vor kurzem beschlossen. Wie aber funktioniert das Verfahren eigentlich, nach dem die Jugendämter agieren, wenn möglicherweise ein Kind gefährdet ist? nw.de hat nachgefragt. Viola Vogel ist noch recht neu im Jugendamt Löhne. Am 1. Januar hat die 42-Jährige die Sachgebietsleitung des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) übernommen. Davor war sie zwölf Jahre im Kreis-Jugendamt für Minden-Lübbecke tätig, unter anderem hat sie sich 2008 mit einer Weiterbildung auf das Thema Kindeswohlgefährdung spezialisiert. Sie erklärt, was es heißt, dass das Kindeswohl gefährdet ist, und wie das Jugendamt in solchen Fällen vorgeht. Prinzipiell sind die Eltern für die Erziehung zuständig, das Jugendamt ist zunächst einmal dazu da, Unterstützung und Hilfe zu geben, wenn die Eltern sie suchen. Ein Eingriff in die Familie muss - so ist es gesetzlich vorgegeben - gut begründet werden. Das passiert nur, wenn das Kindeswohl gefährdet wird oder der Verdacht darauf besteht. Was das genau bedeutet, sei jedoch gar nicht so fest definiert, erklärt Viola Vogel. "Das Kindeswohl ist gefährdet, wenn die gesunde Entwicklung des Kindes nicht den Weg geht, den sie gehen sollte." Und das wiederum hänge sehr vom individuellen Fall ab. Was bei der Meldung zu beachten ist Bevor das Jugendamt genauer hinschaut, gibt es im Regelfall eine Meldung. Die kann von der Polizei, der Schule, dem Kindergarten kommen, aber auch von Privatpersonen - Nachbarn, Angehörige, Freunde oder auch die Eltern selbst, weil sie von sich aus die Unterstützung des Amtes suchen. Während Mitarbeiter von Schulen und Kitas sich zuvor anonym beraten lassen können, um eine Problematik besser einschätzen zu können, müssen Privatpersonen das selbst einschätzen. Wie also entscheide ich, ob ich etwas dem Jugendamt melden soll? "Da sollte man auf sein Bauchgefühl hören", meint Jugendamtsleiter Jürgen Förster. Und Viola Vogel unterstreicht: "Lieber einmal zu viel melden." Zu vermeiden sei jedoch, als Dritter eine Meldung aufzugeben, also nur weiterzugeben, was jemand anderes gesehen oder wahrgenommen hat. Besser sei, denjenigen zu überzeugen, die Meldung selbst aufzugeben. "Und wer anonym bleiben möchte, der bleibt auch anonym", betont Vogel. Schon bei und direkt nach der Meldung schätzen die Jugendamtsmitarbeiter die Situation des Kindes vorläufig ein. In jedem Fall werde aber jede Meldung ernstgenommen und überprüft, betont Vogel. Je nachdem, was der Inhalt der Meldung sei, werde etwa entschieden, ob ein unangemeldeter Hausbesuch angebracht ist oder ob sich die ASD-Mitarbeiter vorher anmelden. Das passiert beim Hausbesuch "Wir unterscheiden bei der Kindeswohlgefährdung drei Kategorien: latent, chronisch und akut", erklärt Vogel. Diese Aufteilung diene auch dazu, zu entscheiden, wie dringlich es sei, etwas zu unternehmen. "Eine latente Gefährdung ist etwa das Miterleben von Gewalt oder die Verweigerung eines Schulbesuchs. Das sind niederschwellige Dinge, durch die das Kindeswohl aber trotzdem gefährdet ist." Als chronisch gelte die Kindeswohlgefährdung dann, wenn sie in den Alltag integriert sei, Eltern sich regelmäßig vor den Kindern streiten und schlagen oder etwa auch so etwas wie Bulimie. Hier ist schnelles Handeln gefragt. Bei einer akuten Gefährdung müsse jedoch am besten sofort gehandelt werden. Um das gut einschätzen zu können, fahren die Mitarbeiter direkt zur Familie. "Beim Hausbesuch gibt es unter den ASD-Mitarbeitern eine klare Rollenverteilung. Einer spricht, der andere beobachtet", erklärt Vogel. Die Eltern würden über den Inhalt der Meldung informiert und könnten dazu entsprechend Stellung nehmen. Dabei achten die Jugendamtsmitarbeiter auf das Verhalten der Eltern, der Kinder zu den Eltern und sprechen schließlich - wenn das Kind das zulässt - auch mit dem Kind unter vier Augen. Schon während des Besuchs stimmten sich die Mitarbeiter ab - mit reinem Blickkontakt. "Das sind eingespielte Teams, die sich untereinander genau lesen können", sagt Vogel. Das sind die möglichen Folgen Und auf dem Weg zurück würde die Situation ebenfalls noch einmal besprochen. "Wenn die bei mir im Büro ankommen, haben die das untereinander schon ausdiskutiert." Gemeinsam mit der Vorgesetzten erfolge dann die genaue Dokumentation und erneute Einschätzung der Lage. "Liegt eine Gefährdung vor? Gibt es einen Hilfebedarf? Und prognostisch: Was ist, wenn die Gefährdung weiter anhält?", zählt Vogel die wichtigsten Fragen auf, die dann zu beantworten sind. Die Maßnahmen, die daraus resultieren, können - je nach Einschätzung - vom Termin im Jugendamt bis hin zur Inobhutnahme gehen. Letzteres passiere aber nur, wenn das Jugendamt keine andere Möglichkeit sehe, die Gefahr für das Kindeswohl abzuwenden. "In schwerwiegenden Fällen wird bei dem Hausbesuch ein Schutzkonzept erarbeitet", erklärt Vogel. Die Eltern verpflichten sich, bestimmte Dinge einzuhalten oder bis zum nächsten Hausbesuch zu erledigen. Das könne enthalten, die Wohnung aufzuräumen, mit dem Kind zum Kinderarzt zu gehen oder es jeden Tag in den Kindergarten zu bringen. "Das wird direkt handschriftlich festgehalten, inklusive der Folgen. Also zum Beispiel: Es darf nicht noch einmal einen Polizei-Einsatz wegen häuslicher Gewalt geben, sonst wird das Kind durch das Jugendamt in Obhut genommen", erläutert die Sachgebietsleiterin. Ausschließen lassen sich Fehler nicht Um Fehleinschätzungen zu vermeiden, seien nicht nur immer mehrere Mitarbeiter mit einem Fall vertraut, auch die Vereinheitlichung des gesamten Verfahrens könne dazu beitragen. Als höhere Instanz wache zudem noch das Familiengericht darüber, dass etwa Inobhutnahmen wirklich rechtens sind. Aber auch der umgekehrte Fall, dass eine Gefahr unterschätzt wird, soll natürlich vermieden werden. "Besonders kritisch ist das etwa bei Babys. Die möchte man nicht unbedingt aus der Familie herausnehmen. Wenn wir uns aber unsicher sind, schicken wir da am gleichen Tag noch eine Krankenschwester oder Hebamme hin, um die Familie zu unterstützen", berichtet Vogel. Hundertprozentig ausschließen ließen sich aber Fehler auch beim Jugendamt nicht - ganz gleich wie lückenlos und einheitlich die Dokumentation wird. "Wir sind leider auch nur Menschen."

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