Schüsse auf Herforder: Rekonstruktion eines Polizeieinsatzes, der Fragen aufwirft

Herford/Bad Salzuflen. Eine Sackgasse in einem Wohngebiet. Blaulicht zuckt durch die Nacht, es wird geschrien, Motoren heulen auf. Dann fallen Schüsse. Am Ende liegt ein lebensgefährlich verletzter junger Mann auf dem Boden, sechs junge Polizisten haben auf ihn geschossen, insgesamt 34 Mal. Der Zwischenfall beginnt mit einer Verkehrskontrolle, es folgt eine Verfolgungsjagd über knapp 20 Kilometer, die in einer Sackgasse mit dem Namen "Plaßheide" endet. Wie konnte das alles so aus dem Ruder laufen? Mit Hilfe von Drohnenaufnahmen, Zeugenaussagen und bisher nicht veröffentlichten Erkenntnissen der Ermittler hat die "Neue Westfälische" Teile des Einsatzes rekonstruiert. Die "Plaßheide" ist eine kleine Straße, knapp 130 Meter lang. Einfamilienhäuser links und rechts, am Ende ein Wendehammer. Für Autos gibt es nur einen Weg hinein und wieder hinaus. In diese Straße fährt ein 19-jähriger Herforder am frühen Morgen des 3. Juni. Ob er weiß, das seine aufsehenerregende Flucht, die ihn vom Ortsieker Weg in Herford über die B239, am Messezentrum Bad Salzuflen vorbei in diese Sackgasse führt, hier jäh enden wird, ist nicht bekannt. Der 19-Jährige, der ohne Führerschein unterwegs ist, steuert seinen Audi in den Wendehammer. Ihm folgen dicht mehrere Einsatzfahrzeuge der Polizei. Sie sind ihm seit Herford auf den Fersen, seitdem eine Zivilstreife ihn kontrollieren wollte, weil er gegen 4.35 Uhr ohne Licht auf dem Ortsieker Weg unterwegs war. Der 19-Jährige rast davon, die Zivilbeamten folgen, rufen über Funk Verstärkung. Auto abgewürgt - aus Unerfahrenheit? Am Ende werden es vier Streifenwagen der Polizeibehörden aus Herford und Lippe sein, angeführt vom Zivilfahrzeug, die sich an der Verfolgungsfahrt beteiligen. Alle folgen dem Audi in die Sackgasse. 13 Beamte werden zum Schluss vor Ort sein. Es dauert offenbar einen Moment, bis sich der Flüchtende orientiert hat. Er scheint zu überlegen, was seine Optionen sind. So beschreiben Augenzeugen ihre Eindrücke. Die Polizeifahrzeuge verteilen sich in dem Wendehammer, ein Wagen bleibt an der Einfahrt stehen - aber er blockiert die Straße nicht komplett. Zeugen berichten, dass der 19-Jährige sein Fahrzeug abwürgt. Die Polizisten verlassen ihre Autos, manche bewegen sich auf den schwarzen Audi zu. Zu diesem Zeitpunkt gelingt es dem Heranwachsenden, seinen Wagen zu starten - doch seine Fluchtmöglichkeiten sind begrenzt. Zu Fuß könnte er noch Richtung Norden über einen kleinen Fußweg laufen, doch er entscheidet sich, es mit dem Auto zu versuchen. Dazu muss er an den Streifenwagen vorbei. Und an den Polizisten, die mit ihren Waffen in seinem Weg stehen. Ob ihm klar ist, dass es nahezu unmöglich sein wird, mit seinem Auto an dem auf der Fahrbahn stehenden Streifenwagen vorbeizukommen? Auf diese Frage gibt es noch keine Antwort. Sechs Schüsse durchschlagen die Windschutzscheibe Klar ist: Der 19-Jährige beschleunigt den Audi. Viel Anlauf kann er nicht nehmen, der Wendehammer hat nur eine Länge von rund 20 Metern. Er hält auf den Streifenwagen zu, der die Einfahrt zumindest teilweise blockiert. Dort stehen auch mindestens zwei Polizisten. Sie sehen den Audi auf sich zukommen, ziehen ihre Waffen und schießen. Wie oft? Darauf gibt es seitens der Ermittler bis heute keine konkreten Aussagen, auch entsprechende NW-Fragen an die Behörden werden nicht beantwortet. Aber: Sechs Schüsse durchschlagen die Windschutzscheibe des Audis, mehrere Projektile treffen den 19-jährigen Fahrer. Am Ende des Einsatzes werden insgesamt sechs Polizisten von ihren Schusswaffen Gebrauch gemacht haben. Die Flucht ist zu Ende, der Audi kollidiert mit der Beifahrerseite des Streifenwagens. Von mehreren Seiten aus stürmen Polizisten auf den Wagen zu. Sie öffnen die Fahrertür, der 19-Jährige sitzt schwer verletzt hinter dem Steuer. Ein Projektil hat ihn am Rücken getroffen, er könnte querschnittsgelähmt bleiben. Die Polizisten leisten Erste Hilfe, fordern einen Notarzt und Rettungswagen an. Per Hubschrauber wird der junge Mann in die Medizinische Hochschule nach Hannover geflogen. Auch Polizisten werden während des Einsatzes verletzt. Ein Beamter wird vermutlich von einem Streifschuss am Arm getroffen und ins Krankenhaus gebracht. Vier weitere Polizisten werden nach Informationen der NW leicht verletzt und noch vor Ort vom Rettungsdienst behandelt. Spurensicherung und LKA am Tatort Der Einsatzort ist nun ein Tatort. Die Sackgasse wird von weiteren Polizeikräften mit rot-weißem Flatterband abgesperrt, Anwohner dürfen ihre Häuser nicht mehr verlassen. Beamte der Spurensicherung rücken an, markieren akribisch jede relevante Spur auf dem Asphalt. Christa und Gerd Richter wohnen auf Höhe der Stelle, an der die Flucht ihr Ende nahm. &bdquo;Wir haben in der Nacht nur lautes Knallen gehört. Ich habe im ersten Moment gedacht, es geht eine Rakete los“, sagt Christa Richter. Aus dem Dachfenster heraus macht ihr Mann Gerd einige Fotos der Szenerie, beobachtet die Beweissicherung. Im Vorgarten und in der Einfahrt des Einfamilienhauses liegen zahlreiche Patronenhülsen, die von der Polizei auf dem Asphalt markiert und dann sichergestellt werden. Rund eine Woche nach dem Vorfall rücken erneut Spurensicherer an, dieses Mal nicht von der heimischen Polizei. Sie kommen vom Landeskriminalamt und sperren die Sackgasse komplett für mehrere Stunden. Eine Drohne kommt zum Einsatz, um Luftbilder zu machen. Nach NW-Informationen werden Teile des Einsatzes nachgestellt. Sechs Männer und Frauen sind anwesend. Sie sind vermummt, um nicht erkannt zu werden und stellen offenbar die entscheidenden Szenen nach, die sich in der Tatnacht zugetragen haben sollen. Ob es sich bei den Protagonisten um die Beamtinnen und Beamten handelt, die auf den 19-Jährigen geschossen haben, ist unklar. Unklar ist nach wie vor vieles an dem Einsatz und der anschließenden Aufarbeitung des Falls. So gibt es ein Einschussloch in einem Garagentor, das offenbar längere Zeit unbemerkt blieb. Waren wirklich 34 Schüsse notwendig, um den jungen Mann zu stoppen? Die "Neue Westfälische" hat den ermittelnden Behörden einen umfangreichen Fragenkatalog geschickt. Antworten gibt es nicht, man könne "aus ermittlungstaktischen Gründen keine Auskünfte zu bereits vorhandenen oder noch ausstehenden Ermittlungsergebnissen mitteilen". Alle Artikel zum Thema finden Sie hier.

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