Wie der Kirchenkreis Seelsorge neu organisiert

Herr Reinmuth, sind Sie nach dem Beschluss der Landeskirche zum kircheninternen Tempolimit 100 km/h auf Autobahnen und 80 km/h auf Landstraßen langsamer unterwegs? Olaf Reinmuth: Nein. Ich finde es gut, dass die Kirche Diskussionen anstößt. Ich halte ein Tempolimit aber nur für sinnvoll, wenn es für alle gilt. Dann bin ich auch dabei. Wie weit sind Sie im Bemühen, Energie zu sparen? Reinmuth: Es gibt viele Gemeinden, die nach Neujahr nicht mehr heizen und bis Ostern Gottesdienst im Gemeindehaus feiern. St. Johannis in Herford wird seit 15 Jahren nicht mehr beheizt. Der Gottesdienst an Heiligabend lockt aber einen Stamm von Leuten in die Kälte. Der Aspekt des Anti-Gemütlichen von Weihnachten lässt sich hier hervorheben. Die Knappheit von Energie und der Blick aufs Klima spielen eine Rolle. Im Kreiskirchenamt werden die Büros nur noch auf 19 bis 20 Grad erwärmt. Wir ziehen uns etwas dicker an. Jetzt ist seit drei Wochen die Heizung defekt. Die 16 Grad Raumtemperatur sind dann doch zu kalt zum Arbeiten. Ich trage Ski-Unterhosen, sonst bin ich durchgefroren. Auf dem Dach haben wir eine Photovoltaikanlage, das ist eine plastische Vorstellung von Klimaschutz. Der Kirchenkreis denkt darüber nach, ein Windrad mit der Beteiligung von Gemeinden und Bürgern zu bauen. Damit könnten wir den gesamten Strombedarf im Kirchenkreis decken. Die Schwierigkeit ist nur: Im Kreis Herford ist vielleicht kein unumstrittener Standort zu finden. Die Einschätzung der Bürger zum Störpotenzial wird sich aber in der Energiekrise vielleicht noch ändern. Es muss sie ja irgendwo geben, wenn wir auf Atomkraft verzichten wollen. Ich bin neben dem AKW Obrigheim aufgewachsen. Das war schon unheimlich. Gibt es Mitgliederschwund? Reinmuth: Ja, die Zahl der Gemeindeglieder geht zurück und das hat sich beschleunigt auf minus 2,34 Prozent von 2020 auf 2021. Hatten wir 2011 noch 123.522 Mitglieder, waren es 2021 noch 102.397. Ich bin gespannt darauf, wie der Inflationsdruck wirkt, ob mehr Leute aus der Kirche austreten, wenn sie weniger kaufen können für ihr Geld. Auch der Bezug zur Kirche löst sich auf. Man sieht die Relevanz nicht mehr und braucht den Kontakt für sich nicht mehr. Es gibt auch Unzufriedenheit mit einzelnen Leuten und Positionen etwa in der Ukrainefrage. Spüren Sie eine Kirchenverdrossenheit, die sich nicht im örtlich festmachen lässt? Reinmuth: Ich habe erfahren, dass viele mit dem Schulterschluss der Evangelischen Kirche zur Bewegung &bdquo;Last Generation“ nicht einverstanden sind. Man hat der Evangelischen Kirche lange vorgeworfen, zu nah an grünen und linken Ideen zu sein. Klar ist, dass wir sozial und ökologisch ausgerichtet sind. Aber die neue Vorsitzende des Rates der EKD, Annette Kurschus, legt größeren Wert auf eine andere Form von Nachdenklichkeit, nicht in erster Linie auf politische Äußerungen. Es gibt auch Leute, die von der Vielfältigkeit von Einstellungen der Kirchenvertreter – etwa in der Ukrainefrage zwischen pazifistisch und pragmatisch – überfordert sind. Bei diesem Thema gibt es meiner Meinung nach keine einfache Antwort. Trotzdem erwarten manche Leute schnell einen Standpunkt, ohne sich die Dinge vorher von allen Seiten ansehen zu wollen. Spielt die Pandemie im Kirchenalltag noch eine Rolle? Hat Corona zu einem nachhaltigen Verlust an Gottesdienstbesuchern geführt? Reinmuth: Wir setzen seit drei Jahren auf Vorsicht. Die Krankheitswelle mit Corona und Grippe erwischt uns gerade in den Kitas mehr denn je. Wir sind noch weit weg von der Normalität. Auch beim Orgelsommer sind die Besucherzahlen noch nicht wie vorher. Die Zahl der Gottesdienstbesucher ist im Wiederaufbau. Einige Chöre haben Verluste, andere nicht. Wir müssen etwas dafür tun. Ein schönes Beispiel ist die Bünder Kantorei. Der neue Kantor Leon Immanuel Sowa, der auch Kreiskantor ist, ist ein junger Typ und super Musiker. Der bringt entsprechende Power und neue Esprit mit und ich rechne mit einem guten Übergang nach 25 Jahren mit Martin Kiefer. Bei den Sonntagsgottesdiensten muss man sehen, wie weit sie noch ihr Publikum haben, oder ob man mehr auf Gottesdienste mit besonderer Gestaltung setzt. Welche Auswirkungen haben Ukrainekrieg und steigende Preise auf die Gemütslage? Reinmuth: Zehn Prozent Inflation, das ist schon eine Hausnummer, besonders für Leute mit knappem Geld. Es gibt viel Verunsicherung aber auch viel Engagement, etwa die Energiekrise zu wuppen und im Verbrauch auf die Bremse zu treten. Ich hoffe, dass der Krieg 2023 auf ein Ende zugeht. Die Leute sind erschöpft nach Corona und viele hängen seelisch in den Seilen. Ein Trost ist, wenn man sieht, was gemeinschaftlich möglich ist, wie eine härtere Gangart durchgehalten werden kann. Was macht Weihnachten in diesem Jahr aus? Reinmuth: Es gibt eine Sehnsucht nach Normalität in schwieriger Zeit. Es geht um Solidarität und das Einüben von Gelassenheit. Die Härte trifft mehr Menschen als sonst. Dagegen müssen wir in Gemeinschaft seelische Kräfte mobilisieren. Gegen die Verzweiflung anzukämpfen, das steckt auch in Weihnachtsliedern. Das ist etwas anderes, als harmonische Gemütlichkeit. Wir müssen uns die Frage stellen: Was ist wirklich wichtig für uns? Der Gedanke der Gastfreundschaft im Hinblick auf Flüchtlinge bleibt wichtig. Jesus kam in einem Stall zur Welt. Die AWO gibt spektakulär ihr Berufskolleg für das Sozial- und Gesundheitswesen in Bielefeld auf. Kann sich der Kirchenkreis sein Elisabeth-von-der-Pfalz-Berufskolleg leisten? Reinmuth: Ja, wir können uns den Zuschuss von 100.000 Euro im Jahr leisten und wir freuen uns, das es das gibt. Wir profitieren davon mit dem Nachwuchs an Erzieherinnen für unsere 58 Kitas. Wie ist die finanzielle Lage des Kirchenkreises? Reinmuth: Gut. Aber es bleibt mittelfristig spannend, wie sich die Ertragslage verändert. Ein Freund von Ihnen sagte neulich: &bdquo;Olaf baut die Kirche um.“ Reinmuth: Ja, wir bauen die Kirche um. Ich setze auf eine stärkere Zusammenarbeit über Gemeindegrenzen hinweg mit möglicher Schwerpunktbildung von Angeboten nach den Stärken der Gemeinden. Es wird nicht mehr alles überall geben. Der pastorale Dienst wird sich weiter verändern, auch weil es zu wenig Nachwuchs an Theologen gibt. Gemeindepädagogen und Pädagoginnen werden zu pastoralen Teams gehören. Das ist auch eine Entwicklungsmöglichkeit für Jugendreferenten. Die Teams werden nicht mehr rein ortsbezogen sondern arbeitsteilig arbeiten mit Schwerpunkten wie Senioren, Konfirmanden und Erwachsenenbildung. Es ist ein Umbau auf den Spuren der 1960er und 70er Jahre. So hat Diakon Friedrich-Wilhelm Brühöfener in Lippinghausen mit anderem Zugang die Arbeit eines Pfarrers gemacht. Die Schließung von Kirchen scheint nicht mehr ausgeschlossen. In Hiddenhausen sind Gemeindemitglieder unglücklich , dass das Rabeneck-Gemeindehaus zur Zweigstelle des Johannes-Falk-Hauses wird. Reinmuth: Die Zahl der Standorte muss langfristig reduziert werden im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit der Ehrenamtlichen und den Klimaschutz. Hiddenhausen ist ein gutes Beispiel, wie man etwas Gemeindenahes machen kann. Wir sind mit unserer Förderschule extrem stark verbunden. Ein gutes Beispiel ist auch die Einrichtung der Frühförderstelle in der Kirche Arche Noah in Bünde. In Dünne wurde eine Arztpraxis mit ins Gemeindehaus genommen. Zusammen mit der Kita ist das ideal. Die Gelegenheiten für eine gemeinsame diakonische Nutzung müssen ergriffen werden. Das wird ein Thema der nächsten 20 Jahre. So könnten Gemeindehäuser für Vereine geöffnet werden. In vielen Ortsteilen ist es das einzige öffentlich nutzbare Haus. In Herford denken wir daran, im Sinne von Quartiersarbeit ein Gemeindezentrum zum &bdquo;Ort der Begegnung“ auch mit anderen Religionen zu schaffen. Pfarrer Bodo Ries hat an der Petrikirche die Regenbogenfahne gehisst als Statement der Offenheit für gleichgeschlechtliche Paare. Zwei Mal wurde sie entwendet. Ein Diakon aus dem Kreis Minden-Lübbecke schrieb uns dazu, dass Gott nicht Menschen verurteile, aber praktizierte Homosexualität in der Bibel eindeutig verurteilt werde. Reinmuth: Es ist eine konservative Auslegung. Den Standpunkt gibt es weiterhin, doch 90 Prozent der Menschen in der evangelischen Kirche ist seit Jahren aus guten Gründen anderer Auffassung. Wir segnen und trauen ja auch gleichgeschlechtliche Paare. Was war für Sie die gute Nachricht des Jahres? Reinmuth: Es gab viele. So die Einweihung von Haus Frieda in Herford mit Kita, Jugendzentrum und Senioren unter einem Dach. Das ist ein Kraftort für die Innenstadt. Der Beratungsprozess für Herford-Land in dem Elverdissen, Herringhausen und Laar ihre Zusammenarbeit organisieren, war erfreulich. Mich beeindruckt die Widerstandskraft der Ukrainer – auch seelisch-mental. Und wir sind stärker, als wir gedacht hätten. Das ist Putins Fehleinschätzung. Worauf freuen Sie sich an Weihnachten? Reinmuth: Auf die Familie. Unsere drei Kinder kommen zu Besuch. Ich halte den Gottesdienst in der Christnacht in der Münsterkirche. Im vergangenen Jahr war es eine kleine Runde. Ich bin gespannt, ob jetzt wieder mehrere Hundert Menschen kommen. Ich freue mich auf inneren Frieden, wenn es schon keinen äußeren gibt.

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