Spaziergang durch Enger: Historie aus 1.200 Jahren auf 600 Metern

Enger. Traurig steht die "Trattoria" da. Geschlossen. Fünf Jahre lang hat Francesco Nastri in seinem Restaurant an der Bielefelder Straße italienische Spezialitäten serviert. Damit ist seit dem vergangenen Sommer Schluss. Die Corona-Pandemie sei kein Grund dafür. "Die Stammgäste haben mich unterstützt", sagte der Inhaber im Sommer. Aber es stünden viele Sanierungsarbeiten an; und er wisse nicht, ob sein Mietvertrag – der liefe nur noch zwei Jahre – verlängert werde. "Das ist zu unsicher", sagte er. Hier gibt's also keine Sanierung.Eine Neugestaltung wird aber direkt vor der Haustür deutlich: Von der "Trattoria" aus in Richtung Norden ist die Bielefelder Straße als Eingangstor zur Engeraner Innenstadt indes schon seit 2015 modernisiert und umgestaltet worden. Dem folgten einige Sanierungen und Umbauten an den Häusern neben der Straße in den Jahren danach. Weiter über die Burgstraße bis zum Barmeierplatz und darüber hinaus wird klar: Enger will sich weiter entwickeln und schöner werden. Ein Spaziergang von Süden nach Norden zeigt den Weg. Wer die 600 Meter zu Fuß in 8 Minuten - das ist die Vorgabe des Navis - bewältigt, sieht nur wenig der Besonderheiten an der Straße. Wer sich und seinen Gedanken aber ein wenig Zeit gönnt, darf sich auf eine Reise freuen, die bis zu 1.200 Jahre in die Vergangenheit führt. Ein ganz persönlicher Blick: 20 auf dem Asphalt Zunächst ist dort die umgestaltete Straße. Mit ihren Parkplätzen. Mit ihren neuen - und alten, erhaltenen Bäumen. Mit einem leichten Schwung nach links. Im Mai 2016 zum Tag der Städtebauförderung zog ein großer Tross über die Straße. Das Theaterlabor Bielefeld hatte die "Odyssee" neu inszeniert und nicht auf die Bühne, sondern auf die Straße gebracht. Die Gruppe von Menschen war damals im Schritttempo unterwegs. Autos dürfen heute dort auch nicht viel schneller fahren. Eine dezente weiße "20" ist auf dem Straßenbelag markiert.Ziel des Umbaus sei es gewesen, den Charakter der ehemaligen autobetonten Landesstraße zu beseitigen und mehr Aufenthaltsqualität zu schaffen. Das alles durch weniger Platz für die Fahrbahn und mehr Nebenanlagen, erläuterte damals die städtische Fachbereichsleiterin Inge Nienhüser. Das hat geklappt. Und hat um die 700.000 Euro gekostet. Aber es gab Zuschüsse.Zigarren erwünscht Öffentliche Gelder hatten auch einige bekommen, die die Fassaden ihrer Häuser verschönert haben. Denn auch sie hatten dazu beigetragen, dass die Straße ansprechender wurde. Es gibt auch heute noch Menschen, die in die Schönheit an der Straße investieren. Zum Beispiel in das Haus mit der Nummer 24. Dort gab's in früheren Zeiten nicht nur Bier und auch mal 'nen Korn, sondern zudem eine Menge Gemütlichkeit. In der Gaststätte "Unter den Linden" trafen sich Alt und Jung an der Theke und genossen dort ihre freie Zeit. Direkt nebenan, so ist's überliefert, gab es eine kleine Zigarrenmanufaktur. Der Legende nach soll es in Anbetracht dieser ganz besonderen Versorgungssituation in der Kneipe verboten gewesen sein, Zigaretten zu rauchen. Jetzt jedenfalls soll das Gebäude - das ist aus dem Rathaus zu hören - nach allen Regeln und Vorgaben des Denkmal- und Gebäudeschutzes saniert werden.Nimmermüder Zapfhahn Was nach all den Jahren nicht mehr ganz so schön war, kam auch mal weg. Wo Cilli in ihrer Eisdiele im roten Ziegelbau der Bielefelder Straße Nummer 14 ganze Jahrgänge von Kindern mit ihrem Eis verwöhnt hatte, steht jetzt ein großes Haus. Mit zehn Wohneinheiten. Der Komplex erstreckt sich bis weit nach Westen. Dem Vernehmen nach waren die Wohnungen sehr schnell verkauft. Es lebt sich halt gut an der neuen Straße in Enger. An der Straße im Übrigen, die nicht einfach nur schwarz ist, sondern mit den vielen weißen Punkten im Asphalt eher hellgrau wirkt. Zumindest dann, wenn die tief stehende Sonne zur Mittagszeit aus Süden auf den nassen Asphalt scheint.Ein paar Meter weiter steht auf der östlichen Seite wieder ein saniertes Gebäude. An der Ecke zur Hagenstraße gab es bis vor wenigen Jahren noch eine funktionierende Kneipe: die "Alte Schänke" oder auch "Penne". Hier soll der Zapfhahn manchmal recht wenig Schlaf bekommen haben. Handwerk und ArmutWer jetzt links um die Ecke Richtung Hasenpatt geht, der blickt auf ein Gebäude, das im Augenblick nicht aussieht wie ein Museum. Dennoch steht dort eins. Dort wird umgebaut. Seit 20 Jahren kümmert sich der Verein des Gerberei-Museums darum, Gelder für die Sanierung zu akquirieren. Das ist schon zu einem großen Teil gelungen; jedoch noch nicht vollends umgesetzt. Ende 2022 soll es feierlich eingeweiht werden. Der älteste Teil des ehemaligen Handwerksbetriebs, die Lohgerberei, geht auf das Jahr 1740 zurück. Die Arbeitsbedingungen unter denen sie ihren Lebensunterhalt verdienten, waren hart. Der Lohn oft gering. Genug Parkplätze Angesagte Transportmittel waren damals in der Regel Pferdekarren. Die dürften dann vor der alten Gerberei gestanden haben. vielleicht sogar dort, wo heute vor dem Museum auf dem großen Platz Autos parken. Und es wegen des Parkverbotes gar nicht dürften. Doch ist die Nachfrage nach Parkraum groß. Der ist übrigens auch bei der Sanierung der Bielefelder Straße tatsächlich geschrumpft. Und es hatte 2020 einen Bürgerantrag im Sinne der "Bereitstellung ausreichender Parkplätze für die Anwohner und Nutzer der Bielefelder Straße" gegeben. Dem folgte die Politik nicht. Die Straße biete nach der Sanierung zahlreiche Vorteile und immer noch 21 Parkplätze plus zwei Behindertenparkplätze. Ein Fazit des Planungsbüros lautete: "Es stehen genügend Parkplätze zur Verfügung aber nicht immer genau vor dem Geschäft oder dem Dienstleister, den man erreichen möchte." Das ist wohl so. Und vielleicht wirken auch die Gebäude mit stadtbildprägender Substanz oder die denkmalgeschützten besser und ansprechender ohne Autos davor. Pflaster statt Asphalt Wer jetzt den Bolldammbach überquert und nicht nach rechts in die Maiwiese - einem wunderbaren Stück Natur im Herzen der Stadt - folgt, der verlässt die Bielefelder Straße, folgt aber einer Achse zur Stiftskirche. Rechts sitzen Schulkinder auf der Fensterbank vor einem Imbiss, über dessen Tür "Pizzeria" steht. Auf der Burgstraße geht es ein wenig hinan. Die Spielstraße, die zudem als Einbahnstraße deklariert ist, wechselt den Belag: Statt Asphalt liegt hier rotes - durch graue Streifen unterbrochenes - Pflaster. Und in ganz vielen Parkbuchten stehen Autos. Zumindest tagsüber. Königsmutter Der Blick geht aber eher nach oben: Der Glockenturm der Stiftskirche überragt in Enger alles. Durch die Äste der alten Bäume, die im Winter ihre Blätter verloren haben, ist er gut sichtbar. Im Vordergrund steht links ein altes Fachwerkhaus. Rechts wird - als Kontrast - ein großer, exklusiver Neubau sichtbar. Vor dem Fachwerkhaus führt die Mathildenstraße Richtung Westen; und damit Richtung Historie: Ihr Name steht für die Heilige Mathilde, die zweite Gemahlin des ostfränkischen Königs Heinrich I. sowie Mutter Ottos des Großen. Sie wurde um das Jahr 895 geboren. Und zwar in Enger. Geradeaus geht es vorbei am Standplatz der alten Burg Enger, die 1305 zerstört wurde. "Unseren Vorfahren galt der Platz als Stätte der Burg Wittekinds", steht auf der Info-Tafel am Haus. Wobei der Sachsenherzog heute in Enger eher als "Widukind" bekannt ist. Unveränderbare Tradition Der Weg geht vorbei an Traditionsgeschäften, dem kolossalen - recht modern gehaltenen - Neubau auf der rechten Seite und dann liegt er vor dem Betrachter: der Kirchenrundling rechts. Und der Barmeierplatz links. Hier prallen das Alte und das Neu-zu-Denkende aufeinander.Die Stiftskirche muss schon über 1.200 Jahre alt sein. Denn sie stand schon, als der Sachsenherzog Widukind lebte. Der ist - da sind sich die Engeraner ganz sicher - dort sogar begraben. Hier wird Tradition sichtbar. Und bleibt unveränderbar. Straßenachse hat Bestand Ein paar Meter niedriger und westlicher erstreckt sich der Barmeierplatz. Und damit das Areal, das von einer möglichen Umgestaltung profitieren soll. Das plant die Stadtverwaltung. Noch im Laufe dieses Jahres werden wohl die Pläne dafür vorliegen. Und nicht nur für den Barmeierplatz, sondern womöglich den gesamten Innenstadtbereich. Auch eine neue Zufahrt zur Tiefgarage ist im Bereich des Möglichen. Es wird sich viel verändern. Die Straßenachse von Süden nach Norden mit Endpunkt Barmeierplatz bleibt aber wohl so, wie sie sich jetzt präsentiert, bestehen. Vielleicht - so lauten optimistische Schätzungen - ist die neue Innenstadt schon in sechs oder sieben Jahren fertig. Und das ist nur ein Wimpernzucken im Vergleich zum Alter der Kirche.

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