Villa soll verkauft werden und steht nun unter Denkmalschutz

Enger. Der Putz blättert von der Fassade, der schmiedeeiserne Gartenzaun hängt traurig in den Angeln, der Garten ist verwildert. Von außen betrachtet macht die Villa an der Spenger Straße 6 - gleich links neben dem Engeraner Rathaus - alles andere als einen einladenden Eindruck. Doch das ist eben nur der erste Eindruck. Tatsächlich schlummert hinter dem bröckelnden Mauerwerk ein Kleinod von durchaus stadthistorischer Bedeutung. Denn in dem um 1900 gebauten Haus lassen sich die Lebensverhältnisse eines der vielen "Zigarrenfabrikanten" in Enger nachvollziehen, der es seinerzeit zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht hatte. Damals war das Haus Teil eines an der Spenger Straße neu entstandenen gutbürgerlichen Viertels. Direkt gegenüber entstand wenige Jahre später die große Zigarrenfabrik Osterwald. Als Zeuge dieser Zeit wurde die Villa jetzt, 120 Jahre später, unter Denkmalschutz gestellt. Im Haus ist fast nichts verändert worden Inge Nienhüser gerät ins Schwärmen, wenn sie von ihrem Besuch in dem Gebäude Ende letzten Jahres gemeinsam mit einem Gutachter des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) erzählt. Über Jahrzehnte hinweg, so sagt die Fachbereichsleiterin für Stadtplanung, Infrastruktur und Umwelt im nahen Rathaus, sei in dem Haus quasi nichts verändert worden. "Die Stuckdecken in den extrem hohen Räumen, Fenster, Türen, Treppenhaus, selbst die Lichtschalter oder die Türklinken - alles ist noch genauso erhalten, wie es einst gebaut wurde. Hier wurde keine Decke abgehängt, kein Grundriss verändert." Obwohl das Haus, so schreibt Dr. Davis Gropp vom LWL in seinem Gutachten, nach außen den Anschein vermittele, eine "Villa" zu sein, ist es tatsächlich doch ein Etagenwohnhaus mit drei seperaten, großen Wohnungen. Genau das, so heißt es weiter, mache das Haus für Enger so interessant. Denn es zeige eine "städtische, bürgerliche Wohnform, die sich in den Neubaugebieten um die Kernstadt von Enger, die an den Ausfallstraßen um 1900 entstanden, etablierte". Während beispielsweise in Bünde die opulenten Villen der großen Tabakfabrikanten entstanden, zeige das Haus in Enger, dass es auch Fabrikanten mit "bescheidenerem Einkommen" gab. Räucherkammer auf dem Dachboden Zwar gehörten diese nicht zu den Inhabern kleiner und kleinster Fabriken, die sich gerade so über Wasser halten konnten. Aber eben auch nicht zu den ganz Großen, die sich eigene Villen mit Personal leisten konnten. Im Haus an der Spenger Straße 6 konnte ein Teil vermietet werden und so für ein zusätzliches Einkommen sorgen. Personal, so Inge Nienhüser, gab es hier eher nicht. "Auf dem Dachboden gab es keine Kammern für Angestellte, sondern in einer Ecke sogar eine kleine Räucherkammer." Gebaut wurde das Haus 1903 vom Tabakfabrikanten Friedrich Pilgrim. Vielen, vor allem älteren Engeranern, dürfte es jedoch aus einem ganz anderen Grund in Erinnerung sein. Lange Zeit, wahrscheinlich schon seit den 1930er Jahren, war im Erdgeschoss eine Zahnarztpraxis untergebracht."Bis in die 1950er Jahre", so hat der ehrenamtliche "Stadtarchivar" Werner Brakensiek in seinen Unterlagen entdeckt, "war Wilhelm Kelle der Zahnarzt, danach praktizierte seine Tochter Hanne dort bis etwa in die 80er Jahre." Brakensiek hat in seinem umfangreichen Archiv nicht nur Bilder des Pilgrim-Hauses gefunden, sondern auch einen Krankenschein von 1929, der in der Praxis für einen Arbeiter der Zigarrenfabrik Osterwald auf der anderen Seite der Spenger Straße ausgestellt worden war. Denn für die Zigarrenarbeiter des Amtes Enger, so sagt Brakensiek, habe es damals eine eigene Krankenkasse gegeben. Verlassene Villa Ziel von Urbexern Hanne Kelle hat noch viele Jahre, nachdem sie nicht mehr als Zahnärztin arbeitete, in dem Haus gelebt. Danach war das Haus einige Jahre nicht bewohnt. Die nostalgische Praxiseinrichtung vom Behandlungsstuhl über Bohrersätze bis hin zu zahllosen Gebissen in den Schubladen war bis zum Schluss erhalten geblieben, wie ein illegal im Haus gedrehter Film zeigt. Offenbar haben in den vergangenen Jahren verschiedene sogenannte "Urbexer" Filme in der verlassenen Villa, einem "Lost Place", gedreht und ins Netz gestellt. Nicht alle haben sich dabei offensichtlich an den Ehrenkodex der Urban Exploration Bewegung gehalten und das aufgesuchte Objekt so verlassen, wie sie es vorgefunden haben. Ein im September letzten Jahres bei YouTube eingestelltes Video zeigt das Innere des Hauses in einem katastrophal durchwühlten Zustand. Möglicherweise kann das Haus des Tabakfabrikanten bald aus seinem Dornröschenschlaf geweckt werden. Denn der jetzige Eigentümer will das Objekt verkaufen. Für potenzielle Käufer, so sagt Inge Nienhüser, könne der Denkmalschutz, unter dem das Haus jetzt steht, Fluch und Segen zugleich sein. Zwar dürfe am äußeren Erscheinungsbild durch die strengen Auflagen nicht viel verändert werden. Das Innere des Hauses dürfe aber einer heute üblichen Nutzung angepasst werden. Und für eine Sanierung gebe es neben steuerlichen Vorteilen dann auch Fördermittel.

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