Dieser Bünder hat den Krieg erlebt: Was ihm zum Thema AfD einfällt

Bünde. Theodor Tiemann ist 88 Jahre alt – und macht sich dennoch Sorgen um die Welt von morgen. Vor Jahren hat der Bünder für die NW-Serie &bdquo;Kriegskinder“ mal aus seinen Erinnerungen erzählt. Schon vorher hatte er all das und noch mehr aufgeschrieben und zu einem Buch gemacht. Jetzt hat er noch mal nachgelegt – als Mahnung an all jene, die mit dem Gedanken spielen, ihr Kreuz auf dem Wahlzettel demnächst bei den ganz Rechten zu machen. &bdquo;Es ist Januar 2025. Mitten in der Nacht wache ich auf – und stelle fest, dass ich geträumt habe. Vom Krieg in der Ukraine.“ So beginnt Tiemanns E-Mail an die NW-Redaktion. &bdquo;Ich drehe mich zur Uhr: kurz nach drei. Das war’s dann wohl wieder mit Schlaf in dieser Nacht.“ Und über den &bdquo;Umweg“ Ukraine fliegen Tiemanns Gedanken einmal mehr zurück in die eigene Kindheit – und in die Zeit davor: &bdquo;Meinem Großvater väterlicherseits waren zwei Frauen und drei Kinder früh verstorben“, schreibt er. &bdquo;In den 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts musste er im Kreis Lübbecke als Zigarrenarbeiter den Lebensunterhalt für seine dritte Ehefrau und seine acht Söhne bestreiten.“ Um der Not der Zeit zu entkommen, habe er sein kleines Häuschen verkauft und 1921 von der zu Siedlungszwecken gegründeten Landgesellschaft &bdquo;Eigene Scholle“ eine kleine Landwirtschaft in Brandenburg/Neumark erworben. &bdquo;Gestorben für die großen Ziele brauner Verbrecher“ &bdquo;In der gleichen Zeit wanderten drei der acht Söhne in die Vereinigten Staaten aus“, schreibt Tiemann weiter. &bdquo;Der jüngste von ihnen 1923 im Alter von 16 Jahren. Alle gründeten dort ihre Familien und fanden mit Fleiß und harter Arbeit ihr Glück – in Freiheit und Frieden, in einem von demokratischen Parteien regierten Land.“ Lesen Sie auch: So endete der Zweite Weltkrieg in Bünde Sein Vater habe später den Hof geerbt und weiter bewirtschaftet – bis er aus Begeisterung für die &bdquo;glorreiche“ Entwicklung dem &bdquo;Ruf des Vaterlandes“ gefolgt und bei der Wehrmacht im &bdquo;Wachbataillon Großdeutschland“ in Berlin als Ausbilder eingestiegen sei. &bdquo;Nicht mit einkalkuliert war wohl die Konfrontation mit den Auswirkungen der Deportation der Juden ab 1941 und der ,Endlösung der Judenfrage’, die ihn veranlasste, freiwillig an die Front zu gehen. Kurz vor Stalingrad hat ihn dann ein Artilleriegeschoss zerfetzt“, schreibt Tiemann. Die Todesnachricht an seine Mutter: &bdquo;Möge die Gewissheit um das große Ziel, dem er sich weihte, und dass er dafür starb, möge diese Gewissheit Ihnen Trost in Ihrem großen Schmerz sein.“ &bdquo;Gestorben für die großen Ziele brauner Verbrecher“, schreibt Tiemann. &bdquo;Er hinterließ eine junge Frau und drei Kinder. Und eine Landwirtschaft, die dann verpachtet wurde. Im Juni 1945 vertrieben uns die Polen endgültig von unserem Hof in Brandenburg/Neumark, nachdem wir seit dem Einmarsch der russischen Armee im Februar Monate in Angst und Schrecken erlebt hatten – um dann im September 1945 wieder dort zu landen, wo unsere Großeltern vor Jahrzehnten mit großen Hoffnungen auf eine bessere Zukunft aufgebrochen waren.“ Noch einige Jahre danach – mit Entbehrungen und Demütigungen als Waise und Flüchtlingskind – habe er vergeblich nach den &bdquo;großen Zielen“ gesucht, für die sein Vater gestorben war. &bdquo;Gegenüber anderen Flüchtlingen hatten wir das nicht zu unterschätzende Glück, hier in Westfalen – insbesondere von den Verwandten meines Großvaters mütterlicherseits – Unterkunft und Hilfe zu bekommen“, schreibt Tiemann weiter. &bdquo;Heinrich, das nimmt kein gutes Ende mit den Nazis!“ Dieser Großvater habe schon vor dem Ersten Weltkrieg in Posen gesiedelt, den Hof dort aber verloren, weil er sich nach besagtem Krieg geweigert habe, die polnische Staatsangehörigkeit anzunehmen. Er habe sich dann ebenfalls in Brandenburg/Neumark niedergelassen. Auch dieser Großvater, schreibt Tiemann, hätte den wirtschaftlichen Aufschwung des &bdquo;Dritten Reiches“ positiv bewertet – im Gegensatz zu seinem anderen Großvater und dessen Nachbarn, der immer wieder gesagt hätte: &bdquo;Heinrich, das nimmt kein gutes Ende mit den Nazis!“ Lesen Sie auch: &bdquo;Wohlweislich nicht tief gegraben“: Anwohner wissen von noch mehr Blindgängern in Bündes Süden Tiemann schreibt weiter: &bdquo;Als er, der einst glaubte, schon frühzeitig eine weise Entscheidung für die Zukunft getroffen zu haben, bereits seinen zweiten Hof verloren hatte und ohne Hab und Gut in sein Elternhaus zurückkehrte, hatten er und seine Frau zwei Söhne und zwei Schwiegersöhne für die berüchtigten großen Ziele verloren und kamen nun mit dem dritten Sohn – verwundet durch einen Schulterdurchschuss – und zwei Kriegerwitwen mit drei Enkeln im Alter von neun, acht und sechs Jahren zurück.“ Sechs Jahre später, so Tiemannn, habe der Großvater wieder ein Haus gebaut, um dem Rest seiner Familie ein eigenes Heim zu bieten. Dafür habe er geschuftet, tagsüber als Heizer bei der britischen Besatzung in Bad Oeynhausen, im Winter zusätzlich als Hausschlachter, in der noch verbleibenden Zeit in der Landwirtschaft seines Bruders und anderer Geschwister. &bdquo;Außer kärglichen Witwen- und Waisenrenten für meine Mutter und uns Kinder gab es keine weiteren finanziellen Hilfen. Fleiß, Genügsamkeit und strikte Einhaltung der geltenden Regeln, nur nicht unangenehm auffallen – das war angesagt. Flüchtlinge waren so beliebt wie Kartoffelkäfer“, schreibt Tiemann. Ähnliches hätten seine in die USA ausgewanderten Verwandten auch erlebt, wie sie viele Jahre später berichteten. &bdquo;So habe ich für alle Menschen, die aus Gründen politischer Verfolgung, Gewaltherrschaft oder Bomben ihr Land verlassen und in unserem demokratischen Staat Zuflucht suchen, allergrößtes Verständnis“, betont der 88-Jährige. Er könne auch die Sehnsucht nach Wohlstand und Freiheit nachvollziehen, &bdquo;wenn junge Menschen auf ihren Handys oder im TV tagtäglich die Bilder ihrer Altersgenossen in den reichen Industrieländern betrachten können“. &bdquo;Ausländerfeindlichkeit und das Wort Remigration rufen in mir Erinnerungen wach“ Alle aufzunehmen, sei nicht möglich, das sei klar. &bdquo;Aber: Ausländerfeindlichkeit und das Wort Remigration rufen in mir Erinnerungen wach – an die Ursachen für die Entscheidung meines Vaters zur freiwilligen Meldung an die Front“, so Tiemann. &bdquo;Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass es einer Partei mit gleichem Gedankengut jemals wieder möglich sein würde, stärkste Partei in einigen Bundesländern und zweitstärkste Partei in Deutschland zu werden.“ Lesen Sie auch: Mittendrin im Kalten Krieg: Als Sowjet-Spione ihre Zentrale in Bünde hatten Vielleicht, so Tiemanns Hoffnung, führe die Lektüre dieser Zeilen bei einigen jungen Leuten (bei denen Wahlforscher eine gewisse Affinität zur AfD und auch zu Populisten festgestellt haben wollen) bei der Wahl im Februar dazu, über ihre Wahlentscheidung noch einmal nachzudenken. Theodor Tiemanns abschließende Zeilen: &bdquo;Ein lästiger Rheumaschmerz zieht wieder einmal durch meinen linken Arm. Das erinnert mich immer noch an die Nächte auf freiem Feld, in Scheunen und Ställen während der Vertreibung und Flucht im Jahr 1945. Meine Frau fragt: ,Alexa, wie spät ist es?’ Antwort: ,8.21 Uhr.’ Scheinbar habe ich doch noch etwas geschlafen. Ein neuer Tag kann kommen. Ein Tag in Freiheit. In einem Land, das seit dem Zweiten Weltkrieg von demokratischen Parteien regiert wird. Noch.“

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