Ärztliche Versorgung ist in manchen Teilen des Kreises Herford gefährdet

Kreis Herford. "Wenn wir nichts unternehmen würde selbst Bünde in acht Jahren nur 68,5 Prozent des Ärztebedarfs abdecken", sagt Marius Tönsmann. Der 27-jährige Gesundheitswissenschaftler präsentiert die Ergebnisse einer Hochrechnung der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen Lippe (KVWL), wie die Ärzteversorgung 2030 aussehen könnte, wenn nicht zusätzliche Maßnahmen getroffen werden, um neue Ärzte an den Kreis Herford zu binden. Es ist nur eines der Themen, das der Experte von der Stabstelle Gesundheitsplanung in seinem Vortrag anspricht. Doch bei seinen Zuhörern stößt er damit auf große Resonanz.Eingeladen hatte zu dem Vortrag bei der AWO Südlengern die AG 60 Plus des SPD-Kreisverbands Herford. Etwa 40 Senioren lauschten bei Kaffee und Kuchen dem Vortrag von Tönsmann und stellten die eine oder andere kritische Frage. Ursprünglich sollte auch Landrat Jürgen Müller (SPD) den Senioren zu Gesundheitspolitik Rede und Antwort stehen. Doch er musste wegen eines Termin zum Ukraine-Krieg kurzzeitig absagen, erklärt AG 60 Plus-Vorsitzender Helmut Ebeling. Doch auch ohne den Landrat gab Tönsmann Einblicke in die Gesundheitsversorgung im Kreis Herford und im Bünder Land. Das waren die wichtigsten Themen: Ärztemangel Die gute Nachricht zuerst: Aktuell ist ärztliche Versorgung im Bünder Land vergleichsweise gut. Das sei vor allem den Bemühungen des Ärztenetzes "Medizin und Mehr" (MuM) zu verdanken", sagt Tönsmann. Laut der KVWL ist sie im sogenannten Mittelbereich Bünde (Bünde, Kirchlengern, Rödinghausen) zu 92 Prozent abgedeckt. Ab 75 Prozent besteht eine Unterversorgung. Die droht jedoch in Herford, Enger, Hiddenhausen, Spenge und Löhne. Sie sind nur wenige Prozentpunkte von dieser Grenze entfernt. "Die Lage im Mittelbereich Herford [umfasst alle vorher genannten Kommunen bis auf Löhne] ist sehr schwierig, weil drei bis vier Ärzte aufgehört haben, ohne einen Nachfolger zu finden", sagt Tönsmann. "Die große Herausforderung ist es nun, zumindest das aufrechtzuerhalten." So habe der Kreis vor kurzem insgesamt deutschlandweit die zweitschlechteste hausärztliche Versorgung in Deutschland gehabt. Ginge dieser Trend so weiter, würde der Hausärzte-Bedarf in Teilen des Kreises 2030 nur zu rund 60 Prozent gedeckt. Zwar gibt es mittlerweile eine medizinische Fakultät in Bielefeld, doch laut Tönsmann würde der Kreis davon "erst in sechs bis neun Jahren profitieren". Um dem Trend frühzeitiger entgegenzuwirken, gibt es deswegen mehrere Förderprogramme des Kreises. Zunächst wäre da eine Pauschalförderung von 25.000 Euro für eine Neuniederlassung in Gebieten mit dringendem Versorgungsbedarf. Die gilt seit diesem Jahr nicht mehr nur für Hausärzte, sondern auch für dringend benötigte Fachärzte. "Bei der Kinder- und Jugendpsychiatrie gibt es jetzt schon Mängel", sagt Tönsmann. Sieben Ärzte seien so schon angeworben worden unter anderem auch einer in Kirchlengern.Doch Geld allein lockt Ärzte nicht in die Region, denn derartige Förderungen gibt es auch anderweitig. Viel wichtiger ist laut Tönsmann der "Klebeeffekt": Das bedeutet, Menschen schon für ihre Ausbildung in die Region zu holen, so dass sie hier sesshaft werden. Dazu gibt es Förderungen zum Wohnen und für die Mobilität für die Praxis- und Praktikumsphasen des Medizinstudiums. Beworben wird das in allen medizinischen Fakultäten in einem Umkreis von 300 Kilometern. Darüber hinaus gibt es das Programm "Mit Praxis zur Praxis", in dem ausgebildete Ärzte in "Mentorenpraxen" den Betrieb einer eigenen Praxis kennenlernen. Mit dem Ziel, dass sie danach den Schritt wagen, sich mit einer eigenen Praxis niederzulassen.Gemeinschaftspraxen "Gemeinschaftspraxen sind die Zukunft", sagt Tönsmann. Für Einzelpraxen im ländlichen Raum würde immer schwieriger, Nachfolger zu finden. Der Grund: Während bei einer Einzelpraxis eine Arbeitsbelastung von 10 bis 12 Stunden täglich auf die Ärzte zukommt, seien Gemeinschaftspraxen von den Arbeitszeiten wesentlich flexibler und dadurch attraktiver.Hebammenmangel Nicht nur bei Ärzten, sondern auch bei Hebammen setzt der Kreis auf einen "Klebeeffekt". "Aktuell fördert der Kreis die Ausbildung von zehn Hebammen und Geburtshelfern", sagt Tönsmann. Im Gegenzug würden sich die Hebammen dazu verpflichten, in einer Geburtsklinik im Kreis für fünf Jahre zu arbeiten. "Wenn die Stipendiatinnen zunächst dreieinhalb Jahre ihre Ausbildung machen und dann noch fünf Jahre hier sind, werden die wahrscheinlich auch hier bleiben", sagt Tösnmann. Zusätzlich unterstützt die Stabstelle Gesundheitsplanung die schon vorhandenen Hebammen im Kreis dabei, sich besser zu vernetzen. Durch eine besser Vernetzung soll auch die Hebammensuche für Familien erleichtert werden, aber auch die Sorgen der Hebammen sollen weiter aufgenommen werden.Gesundheit von Lehrern Eine "Herzensangelegenheit" für Tönsmann ist die Gesundheit von Lehrkräften. "Der Beruf ist enorm herausfordernd, nicht erst seit der Pandemie", sagt der Kreis-Mitarbeiter. In einer vom Kreis angebotenen Workshop-Reihe sollen Techniken zur Vorbeugung von psychischer Belastung gelehrt werden. In einer weiteren Veranstaltungsreihe sollen Lehrkräfte geschult werden, verstärkt darauf zu achten, wie Kinder und Jugendliche in der Pandemie verstärkt psychischen Belastungen ausgesetzt sind und wie diesen entgegengewirkt werden kann. Altenhilfe Schließlich gibt es auch mehrere Programme des Kreises zur Altenhilfe. Dazu gebe es momentan eine Bedarfserhebung, wie groß der Bedarf an kultursensibler Pflege für Senioren mit Migrationshintergrund sei. Zum Thema Demenz gibt es nun seit drei Jahren den Demenzverbund Kreis Herford. "Wir haben mittlerweile 145 Mitglieder aus 100 Einrichtungen", sagt Tönsmann. So gebe es nun eine zentrale Anlaufstelle, die an die vielen ehrenamtlichen Initiativen zur Demenz im Kreis weiter verweisen kann. Zudem gibt es über den Kreis nun verschiedene Informationsangebote zum Thema Demenz wie eine Infomappe, die in Praxen ausgegeben werden soll oder einen Demenzkoffer, mit dem das Thema in Schulen und Kitas thematisiert werden kann.

Meistgelesen