Emotionale Erfahrungen

Zehn Jahre Depressionen – 36-Jähriger kämpft sich im Kreis Gütersloh zurück ins Leben

Lars Lietmann hat einen langen Leidensweg hinter sich. Der Kampfsport hat ihm geholfen, sich besser zu fühlen. Mit seiner Geschichte möchte er anderen helfen.

Lars Lietmannn (Mitte) fühlt sich in der Versmolder Kampfsportschule bestens aufgehoben. Frank und Claudia Unzicker freuen sich, dass ihm Boxen und Kickboxen beim Kampf gegen die Depressionen weiterhelfen. | © Tasja Klusmeyer

03.10.2024 | 03.10.2024, 12:40

Versmold. „Mein Name ist Lars. Ich leide seit gut zehn Jahren an schweren Depressionen und hatte im Alter von 33 Jahren bereits zwei Burnout-Erkrankungen. Ihren Höhepunkt fanden meine Depressionen im Jahr 2021 mit einem mehrmonatigen stationären Klinikaufenthalt.“ Mit diesen Worten beginnt die Geschichte, mit der sich ihr Verfasser an diese Zeitung wendet. Wir haben Lars getroffen.

Die Spätsommersonne steht tief über den Dächern der Innenstadt. Sie wärmt angenehm. Auf dem Platz vor der Kampfsportschule an der Altstadtstraße treffen nach und nach Sportlerinnen und Sportler ein. Ein groß gewachsener Mann kommt um die Ecke und läuft zielstrebig auf Claudia und Frank Unzicker zu. Am Training kann Lars Lietmann an diesem Abend nicht teilnehmen, er hat gerade eine Zahn-OP hinter sich.

Warum er mit seiner sehr persönlichen Geschichte den Weg in die Öffentlichkeit geht? „Weil ich gerne so etwas gelesen hätte, als es mir schlecht ging“, antwortet der Füchtorfer.

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Lars trainiert viermal pro Woche in Versmold im Kreis Gütersloh. - © Symbolfoto/Pixabay
Lars trainiert viermal pro Woche in Versmold im Kreis Gütersloh. | © Symbolfoto/Pixabay

Viermal pro Woche Training im Kreis Gütersloh

Es gab viele Tage im Leben des 36-Jährigen, da lagen dunkle Schatten über seiner Seele. Der Kfz-Sachverständige leidet an einer funktionalen Depression. „Es ist ein fließender Übergang“, beschreibt er die Anfänge der Erkrankung. Die Familie merkt, dass irgendetwas nicht stimmt, vor allem „weil ich eine sehr negative Sicht hatte“, schildert Lars Lietmann.

Der Füchtorfer holt sich Hilfe. Einen wesentlichen Anteil am heutigen Wohlbefinden hat der Kampfsport. Viermal die Woche trainiert er in Versmold und fühlt sich in der Gemeinschaft wohl. „So gut wie heute ging es mir in den letzten zehn Jahren nicht mehr.“

Wie es dazu gekommen ist? Das soll Lars Lietmann am besten selbst erzählen. Mit „Kickboxen gegen Depressionen - Fazit nach einem Jahr Kampfsport“ hat er seinen Erfahrungsbericht überschrieben (wir haben ihn etwas gekürzt). Er geht weiter nach dem mehrmonatigen Klinikaufenthalt.

Lars’ persönlicher Erfahrungsbericht

„Das Jahr darauf habe ich mich mit Hilfe von Medikamenten von Tag zu Tag gequält und war einfach nur froh, wenn der Tag, die Woche, der Monat vorbei waren. Aufgrund mangelnder Sorgfalt mit mir selbst - teils auch in Verbindung mit der Einnahme von unterschiedlichen, aber notwendigen Medikamenten - hatte ich zudem Probleme mit starkem Übergewicht. Fast nicht vorhandenes Selbstbewusstsein in Verbindung mit dem Übergewicht ließen den Rest Selbstwert komplett verschwinden.

Ich wusste, ich musste etwas tun, um diese Negativspirale, das Gedankenrasen und meinen gegen mich selbst gerichteten Verstand zumindest zeitweise einzudämmen. Durch eine erfahrene Anhedonie (eine mögliche Begleiterscheinung von Depressionen) habe ich jegliches Interesse an meinen vorherigen Leidenschaften und Hobbys verloren.

Zudem fehlte neben der Arbeit die Aufgabe - was für einen sehr unentspannten Charakter wie meinen heikel ist. Dadurch war ich ratlos, was mir außer meiner Familie und der Psychotherapie Halt geben könnte.

Sport hilft bei Depressionen

Bekannt ist, dass eigentlich jede Art von Sport hilfreich bei Depressionen und bei Übergewicht ist. In den Unterlagen der Klinik stand, dass Kampfsport im Besonderen gut gegen Depressionen wirkt. Da dachte ich mir: Wenn ich mental schon die ganze Zeit niedergeschlagen bin, dann kann es nicht so schlimm sein, wenn ich auch körperlich mal niedergeschlagen werden sollte.

Also habe ich nach Angeboten in der Nähe Ausschau gehalten und bin auf die Kampfsportschule Versmold gestoßen. Ich bin mit großer Aufregung zum Probetraining gefahren und habe erst gedacht: Hoffentlich gefällt es mir. Dann war mir aber klar: Mit meiner krankheitsbedingten, universellen Abneigung und circa 40 Kilogramm Übergewicht wird mir so ein hochanstrengendes Training natürlich nicht gefallen.

Dies führte zu dem Gedanken, dass es komplett egal ist, ob es mir gefällt. Ich wusste, ich muss etwas gegen das Gedankenrasen und etwas für meinen Körper tun. Da habe ich mir gesagt, ich sehe das Training einfach wie einen Besuch beim Arzt. Diese Besuche machen auch keinen Spaß, aber ich verpasse keinen Termin, weil ich weiß, dass es wichtig ist.

Nach dem ersten Training war Lars komplett überfordert – doch es wurde besser. - © Symbolfoto/Pixabay
Nach dem ersten Training war Lars komplett überfordert – doch es wurde besser. | © Symbolfoto/Pixabay

Überforderung beim ersten Training

Das erste Training ließ sich meinerseits nur mit dem Begriff „überfordert“ beschreiben. Diese Art der Beanspruchung war mein Körper nicht gewohnt. Aber trotz der gefühlten Überforderung war mein Kopf schon am Abend nach dem Training herrlich ruhig. Aufgrund meiner Einstellung, das Training wie einen Arztbesuch zu sehen, bin ich schon fast störrisch zweimal die Woche zum Kickboxen gegangen.

Nach zwei Monaten und den ersten spürbaren Steigerungen in der Ausdauer und dem Abbau von Körpergewicht und vor allem dem viel größeren mentalen Wohlbefinden hat es angefangen, Spaß zu machen. Seitdem brauche ich mich nicht zu überwinden. Der Sport ist fest in meinem Alltag integriert. Nach sechs Monaten im Training wurde neben dem Kickboxen noch zweimal die Woche klassisches Boxen angeboten. Das habe ich wohlwollend angenommen.

In genau einem Jahr habe ich – trotz deutlichem Muskelaufbau – 26 Kilogramm abgenommen. Die unübersehbare körperliche Veränderung wird nahezu wöchentlich von Freunden, Bekannten, Arbeitskollegen oder der Familie anerkennend kommentiert, was sich positiv auf den Selbstwert auswirkt. Nicht nur das Gewicht, die Haltung selbst ist eine ganz andere als zuvor.

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Wut und Sorgen landen im Boxsack

Die körperlichen Verbesserungen und die gesteigerte Wehrhaftigkeit sind für mich persönlich quasi nur Nebeneffekte des Trainings. Was sich mental in dieser überschaubaren Zeit verändert hat, habe ich nicht zu hoffen gewagt. Ich bin deutlich gelassener, schlafe besser und nach dem Training ist der Kopf wunderbar frei. Alles, was ich an Wut, Stress und Unsicherheit in mir trage, schlage und trete ich in Boxbratzen oder den Boxsack - und es strömt in Form von Schweiß aus mir heraus. Körper und Geist hängen doch mehr zusammen, als ich glauben wollte.

Aber ich muss auch ehrlich sagen, dass ich Glück gehabt habe mit der Wahl der Kampfsportschule. Denn selbst, wenn mir der Sport gefallen hätte, das Team aber nicht, hätte ich sicher denselben Sport nicht noch mal woanders ausprobiert. Das Team um Frank und Claudia Unzicker sowie Dennis Pohl ließ mich schnell spüren, dass ich gut aufgehoben bin.

Ich habe mir vorgenommen, niemandem meine wahren Beweggründe für das Training anzuvertrauen, aber durch den sehr respektvollen Umgang und meine Trainingspartner bin ich jetzt sogar bereit darüber zu schreiben.