Irritierender Bürokratismus im Kreis Gütersloh: Freibad-Attraktion plötzlich vor dem Aus

Rheda-Wiedenbrück. Berühmt ist die Verordnung Nr. 1677/88, die 1988 in Europa Qualitätsnormen für Gurken festsetzte. Dazu gehört, dass ein Exemplar der Handelsklasse &bdquo;Extra“ maximal eine Krümmung von zehn Millimetern auf zehn Zentimeter Länge haben darf. Das steht symbolisch für Regelungswut, für überbordenden Bürokratismus und für die Negation des gesunden Menschenverstandes. Nun gibt es ein weiteres Beispiel: die Sperrung des Drei-Meter-Sprungturms im Wiedenbrücker Freibad. Das Becken darunter ist ganze acht Zentimeter zu flach. Aufgefallen ist das Experten der Deutschen Gesellschaft für das Badewesen (DGfdB) mit Bezug auf die DIN EN 13451-10. Das frustriert nicht nur alle, die sich auf die Sprünge vom Dreier in der Freibadsaison gefreut haben. Das ließ auch Theo Mettenborg, Bürgermeister von Rheda-Wiedenbrück, kreativ und aktiv werden. Er versteht das Kopfschütteln der Leute und hat mit seinem Team ein Sprung-Spektakel initiiert, um die Sicherheit zu beweisen. Das ist gut. Das zeigt, dass die Stadt etwas möglich machen und nicht verbieten will. Es gibt &bdquo;keine reale Gefahr“, meint ein erfahrener Wasserspringer Am 1. Juni bestiegen Kinder und Erwachsene unter dem Motto &bdquo;Wir retten den Turm“ freiwillig, aber nicht lebensmüde den Dreier. Mit 1.000 Kerzen, Salti und Arschbomben – über und unter Wasser dokumentiert – zeigten sie im Praxistest, dass das Sprungvergnügen sicher ist. Leichtgewichtige Jungs und Mädchen tunkten mal gerade unter die Wasseroberfläche. 100-Kilogramm-Männer sorgten für Wasserfontänen, verließen aber völlig unbeschadet die Sprunggrube. So wie es seit Jahrzehnten Praxis ist. Gesprungen sind auch vier Leistungssportler des Stützpunktes Münster, die mit Anlauf und großer Akrobatik ins Wasser tauchten. Das persönliche Fazit von Markus Braun, Wasserspringer seit den 70er-Jahren und ehemaliges Mitglied der deutschen Nationalmannschaft: Es gibt &bdquo;keine reale Gefahr“, dafür aber eine &bdquo;zweifelhafte Normierung“. Doch wurde der Dreier nach dem Erreichen der 1.000 Sprünge für den Praxistest direkt wieder gesperrt – aus Sicherheitsgründen. Wie viel Sicherheitsvorschriften braucht der Mensch? Eine offizielle Gefährdungsbeurteilung liegt noch nicht vor. Bilder, Videos und Dokumente werden ausgewertet, Detailfragen geklärt. Vielleicht auch die nach dem Bestandsschutz. Die DIN EN 13451-10 gibt vor, dass eine Sprunggrube 3,70 Meter tief sein muss. Sie gilt seit 2018. Eröffnet wurde das Wiedenbrücker Freibad 1959 und saniert 2004. Seither misst die Sprunggrube 3,62 Meter. Unfälle aufgrund der Wassertiefe gab’s dort nie. Lesen Sie auch: Attraktion in Freibad im Kreis Gütersloh vor dem Aus – Stadt plant jetzt kurioses Event Doch bleibt der Dreier zu. Denn sollte etwas passieren, würde nach einem Verantwortlichen gesucht. Das könnte für die Stadt teuer werden, so lange die Gutachter auf der Sperrung des Turms bestehen. Zum Glück gibt es ein zweites städtisches Freibad in Rheda, mit einem Dreier, unter dem die Sprunggrube normkonform 3,75 Meter tief ist. Die Frage aber ist: Wie viele Sicherheitsvorschriften braucht der Mensch? Auf die Spitze getrieben: Müssten nicht alle Autos, wenn schon nicht ganz verboten, so doch zumindest erheblich in ihrer PS-Leistung beschränkt werden? Schließlich passieren auf Deutschlands Straßen täglich tödliche Unfälle. Sicherheitsmängel lauern überall: &bdquo;Leben gibt es nicht ohne Risiko“ Und schreit das Umknick-Risiko auf High Heels nicht regelrecht nach einer Norm für Absatzhöhe und -winkel? Braucht es nicht eine Verordnung für Balkonblumenkästen, damit Spaziergängern bei unsachgemäßer Bepflanzung und Montage nicht auf den Kopf fallen könnten? Zurück zum Gemüse: Die viel kritisierte Gurkenkrümmungsverordnung wurde 2009 nach 20 Jahren Gültigkeit wieder außer Kraft gesetzt. Nicht aus Sicherheitsgründen. Sie stand für eine Regulierungswut ohne Sinn und Bezug zum realen Leben. Lesen Sie auch: Becken in Gütersloher Schwimmbad bleiben vorerst zu: Saison 2027 fällt komplett aus Die Sinnhaftigkeit der DIN EN 13451-10 wurde durch die 1.000 Wiedenbrücker Turmsprünge faktisch ad absurdum geführt. Es wäre konsequent, wenn sich die Norm dem beugen würde. Fakt ist auch: Sicherheitsmängel lauern überall. Leben gibt es nicht ohne Risiko. Doch unterm Wiedenbrücker Sprungturm ist die Gefahr, wegen acht fehlender Zentimeter Wassertiefe Leib und Leben zu riskieren, so gering, wie in einer Wasserpfütze zu ertrinken. Will man sich dadurch die Lebensfreude nehmen lassen?

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