Zehntausende feiern im Kreis Gütersloh: Sind Schützenvereine noch zeitgemäß?

Herr Leineweber, seit 2016 beschäftigen Sie sich mit dem Schützenwesen in Westfalen. Warum ist das ein Thema? JONAS LEINEWEBER: Es gab mehrere Anstöße, die zu dem Forschungsprojekt geführt haben. Zum einen wurde das Schützenwesen 2015 nach einem kontroversen Bewerbungsprozess von der deutschen UNESCO-Kommission in das Bundesverzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Das ist für uns aus dem Bereich der Kulturerbeforschung spannend. Zum anderen gab es Vereine und Verbände, die bei uns angefragt haben, ob es angesichts immer größer werdender ehrenamtlicher Anforderungen und bürokratischer Auflagen die Möglichkeit gäbe, eine Studie durchzuführen, aus der dann Strategien für die Zukunft abgeleitet werden können. Mit welchen Problemen kamen Schützen zu Ihnen? Es gab und gibt ein ganzes Bündel an Herausforderungen, mit denen sich die Vereine konfrontiert sehen. Es sind steigende Auflagen, Mitgliederüberalterung oder Schwierigkeiten bei der Besetzung von Vorstandsposten. Das sind drei Beispiele, die immer wieder genannt wurden. Sind Sie selbst Schütze? Ja, ich bin Mitglied in meinem Heimatort Altenbeken. Unser Projektteam war bewusst durchmischt. Es hat sich sowohl aus Personen zusammengesetzt, die Vereinsmitglieder sind und die Innenperspektive kennen, als auch aus Mitarbeitern, die keine Berührungspunkte zu dem Brauch haben. Beide Perspektiven sind wichtig. Gemeinhin wird Schützen nachgesagt, dass sie heute bei ihren Festen auf einen hölzernen Adler oder eine Zielscheibe schießen und viel Bier trinken. Welche Rolle spielen noch die Werte Heimat, Sitte, Glaube noch? Geselligkeit ist wichtig, sie gehört unweigerlich zu Schützenfesten dazu. Aber darauf kann man das Schützenwesen nicht reduzieren. Die Leitwerte Glaube, Sitte, Heimat werden in ihrer Bedeutung für das persönliche Leben von den Schützen sehr unterschiedlich bewertet. In einer großen Umfrage mit 5.470 Befragten konnten wir ermitteln, dass Heimat mit knapp 90 Prozent als sehr wichtig eingestuft wird, während Glaube für nur 43 Prozent relevant ist. Aus diesem Ungleichgewicht resultiert die Frage, wie es die Vereine schaffen, ihre Werte so zu vermitteln, dass sie weiterhin gesellschaftliche Relevanz, Akzeptanz und Resonanz erzeugen. Geselligkeit und Gemeinschaft sind beispielsweise ganz allgemein Aspekte, die einen sehr hohen Zuspruch im Kontext des Schützenwesens haben. Die schönsten Fotos der Saison 2024: Alle Schützenkönige im Kreis Gütersloh Was können Traditionen wie die des Schützenwesens den Menschen bieten? Traditionen können Orientierung und Verortung bieten. Der Volkskundler Hermann Bausinger spricht beispielsweise davon, dass Traditionen als Insel des fundierten Alten, des Beständigen in einem Meer von Veränderungen wahrgenommen werden können. Diese Sehnsucht gibt es vor allem in unbeständigen Zeiten. Deswegen spielen Traditionen gerade in Umbruchzeiten eine wichtige Rolle. Wie ist es mit Frauen? Schützenvereine gelten ja als eine der letzten Bastionen der Männer. Einerseits ja, anderseits ist das Schützenwesen sehr vielfältig und dynamisch. Während einige Vereine sich schon vor Jahrzehnten geöffnet haben, halten andere an der reinen Männermitgliedschaft fest. Die Herren wollen in vielen Vereinen unter sich bleiben? Generell unterliegen Traditionen gesellschaftlichen Aushandlungs- und Reflexionsprozessen, so dass es immer wieder zu Veränderungen kommt. Im Kreis Paderborn beispielsweise haben sich allein im vergangenen Jahr circa 15 Vereine geöffnet oder einen Öffnungsprozess angestoßen. Die Diskussionen waren dabei häufig weniger kontrovers als angenommen und die Abstimmungen in den meisten Fällen überraschend deutlich oder sogar einstimmig pro Öffnung. Wichtig ist es, dass jeder Verein einen solchen Prozess selbst durchläuft und für sich aushandelt. Überlebenstipps fürs Schützenfest: Mit diesen sieben Tipps feiern Sie ohne Risiken Sind die Schützenvereine in der Moderne angekommen? Schützenvereine sind Teil der Moderne. Traditionen werden fortwährend weiterentwickelt und angepasst. Das sieht man sowohl in der Geschichte als auch in der Gegenwart. Schon im Untersuchungszeitraum des Projektes von acht Jahren hat sich sehr viel getan. Der Bund der Historischen Deutschen Schützenbruderschaften, der jetzt am Wochenende das Bundesschützenfest in Rietberg feiert, hat beispielsweise 2017 einen umfassenden Orientierungsrahmen verabschiedet, wo einige Bereiche grundlegend angepasst wurden. Dazu gehört beispielsweise die Mitgliedschaft für Nichtchristen. Welche Zukunftschancen geben Sie dem Schützenwesen? Es gibt nach wie vor ein großes Bedürfnis nach Gemeinschaft und Geselligkeit, so dass auch die Schützenvereine ihren Weg gehen werden. Schützenfeste können Orte der Begegnung, der Interaktion und der Verständigung sein. Und ein weiterer Aspekt kommt hinzu. In der Coronapandemie konnte man noch einmal sehr deutlich sehen, wie wichtig die Vereine auch für die soziokulturelle Infrastruktur in ländlichen Regionen sein können. Was heißt das konkret? Viele Vereine haben sich in dieser Zeit sozial engagiert. Sie haben etwa Einkaufshilfen geboten, Fahrdienste organisiert oder Schützenhallen als Test- und Impfzentren bereitgestellt. Hier besteht ein Potenzial für die Zukunft darin, dieses von den Vereinen auch unabhängig von der Pandemie geleistete soziale Engagement durch eine moderne Vereinskommunikation stärker in die Öffentlichkeit zu tragen, um mehr auf diesen Aspekt ihrer Arbeit aufmerksam zu machen. Ist das Netzwerk der Schützenvereine als ein Ergebnis Ihrer Forschungsarbeit eines, von dem auch Heimat-, Gesangs- oder Karnevalsvereine profitieren können, die ähnliche Probleme haben? Ja, unsere Studienergebnisse dürften auf sehr viele Traditionsvereine übertragbar sein. Unser Leitfaden zur Entwicklung von individuellen Zukunftskonzepten könnte leicht modifiziert auch von anderen Vereinen genutzt werden. Zudem gibt es einen Newsletter, über den wir Projektergebnisse kommunizieren und etwa Tipps und Informationen zu Förderungen geben.

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