Auschwitz-Überlebender: "War mir peinlich zu sagen, ich komme aus dem KZ"

Rheda-Wiedenbrück. Hugo Heinemann war wohl der letzte Auschwitz-Überlebende im Kreis Gütersloh. Am 30. Januar ist der Mann, der das Grauen überlebt hat, im Alter von 97 Jahren friedlich für immer eingeschlafen. Darum veröffentlicht die NW noch einmal ein Interview, das Marion Pokorra-Brockschmidt mit ihm geführt hatte und das am 1. Juni 2005 erschienen war. Damals wollte Heinemann seinen Namen nicht in der Zeitung lesen – aus Furcht. Rückblick, Interview vor 17 Jahren. Die Angst bleibt. Das ist die bittere Erkenntnis, lauscht man Hermann H. (Name von der Redaktion geändert). Seine Mutter war jüdischen, sein Vater katholischen Glaubens. H. wurde 1924 getauft, galt aber nach dem Rassegesetz der Nationalsozialisten als &bdquo;Mischling ersten Grades“. Der heute 81-Jährige überlebte das Grauen im Konzentrationslager Auschwitz.Am 1. Juni 1945 erreichte der gebürtige Dortmunder seine Familie in Rheda, wo er seither lebt. Selten erzählt er von seinem Martyrium. Jüngst aber stellte er sich zwei Schulklassen, um ihnen ein Bild des Nazi-Terrors aus der Sicht eines Holocaust-Überlebenden zu zeichnen. Marion Pokorra-Brockschmidt sprach mit ihm. Ihre engsten Angehörigen überlebten den Holocaust nicht.Meine Mutter war Jüdin und 1942 nach Riga deportiert worden ich habe nie wieder von ihr gehört. Mein Bruder trug stolz den Judenstern und wurde wegen Missachtung der Ausgangssperre verhaftet er war zu lange im Luftschutzbunker geblieben. Er kam nach Mauthausen und wurde auf der Flucht erschossen, wie es damals hieß. Ich wurde als Halbjude von der Gestapo vorgeladen und nach Auschwitz deportiert. Wann was das?Im Februar 1943. Ich war 18 Jahre alt. Am ersten Abend im Lager habe ich geheult. Welches Bild haben Sie von Auschwitz?Grauen, Tod und Mord. Wie war Ihre Ankunft?In geschlossenen Viehwaggons wurden wir transportiert. Auf der Laderampe in Birkenau wurden wir sortiert, mussten auf einen Lkw klettern und wurden nach Auschwitz III gebracht. Dort mussten wir uns ausziehen und alles abgeben. Unsere Haare wurden rasiert und wir mit Petroleum eingerieben wegen der Läuse. Dann durften wir duschen und bekamen gestreifte Kleidung. Ich wurde Block zehn zugewiesen. Vor der Tür saß ein Häftling und tätowierte uns. Ab da hatten wir keine Namen mehr, sondern waren nur Nummern ich die 104.946. Jeder SS-Mann konnte mit uns machen, was er wollte, wir waren der letzte Dreck. Welchen Terror erlebten Sie?Alle vier Wochen war Auszahlung. So nannten wir die Strafen. Alle mussten abends auf dem Appellplatz stehen. Wen der Arbeitsdienstleiter bestrafen wollte einen Grund fand er immer kriegte 25 heftige Schläge auf den Hintern, so fest, dass sich die Wunden später oft entzündeten. Auch Hinrichtungen mussten wir beiwohnen. Der Hauptscharführer kam und verlas im Namen des Reichsführers der SS Himmler die Todesurteile auch da erfanden die Nazis Gründe. Die Verurteilten wurden von Mit-Häftlingen an drei Galgen erhängt. Wenn die Hinzurichtenden noch zappelten, mussten die Häftlinge an deren Beinen ziehen. Wir mussten blockweise, den Blick auf den Galgen gerichtet, zur Abschreckung an den Toten vorbei marschieren. Wie haben Sie das verkraftet?Ein Mensch kann abstumpfen: Die Toten im Lager haben uns nichts mehr ausgemacht. Was mussten Sie arbeiten?Ich kam ins Zementkommando, musste Säcke schleppen und Beton mischen. Das Buna-Lager war erst im Aufbau. Wie haben Sie die körperlichen Strapazen verkraftet?Ich bekam einen Handballen-Abszess. Ein Schlosser, den sie zum Sanitäter gemacht hatten, schnitt ihn auf und ich kam zurück auf den Block. Der Kapo meinte aber, dass ich nicht arbeiten könne. Ich musste zum Krankenrevier, wo alle Aussortierten standen und warteten, bis der SS-Arzt kam. Vor dem mussten wir uns nackt ausziehen, die Arme hoch, uns vor ihm drehen und der nahm mich auf. Bedeutete das eine Erholung?Nein, es war wie ein Todesurteil. Ein Obersturmführer kam ins Revier und meinte: &bdquo;Zu viele Kranke, alle ab nach Birkenau“. Ich musste also spätestens nach 14 Tagen wieder raus. Nach einer Woche kam ein Bekannter und half mir ins Elektriker-Hauptkommando. Ich wurde sofort aus dem Revier entlassen. Wussten Sie von den Vergasungen in Birkenau?Nein. Aber zu uns wurden Häftlinge aus Sachsenhausen und Birkenau verlegt immer, wenn bei uns Männer gestorben waren. Von den Neuen hörten wir erstmals, was dort Schreckliches geschah: Dass massenweise Menschen vergast wurden, dass ein Sonderkommando die Toten aus den Gaskammern holen musste, ihnen das Zahngold rausbrechen und die Leichen in Krematorien schaffen musste. Mit wie vielen Leuten waren Sie untergebracht?Unser Block war mit 300 Leuten belegt. Wenn jemand starb, wurde das nicht gemeldet, sondern er wurde beim Appell neben uns gelegt und wir haben sein Brot bekommen. Wie wichtig waren die anderen Gefangenen für Sie?Zu einigen hatten wir kein gutes Verhältnis, sie waren unsauber. Es hieß: Eine Laus, dein Tod. Hatten Sie Freunde?Die waren die Rettung. Wir haben uns unterstützt und gesagt: Überleben ist alles. Wovon haben Sie gelebt?Morgens kriegten wir 150 Gramm Brot, mittags und abends einen Liter Suppe. Dazu eine Scheibe Wurst und 25 Gramm Margarine. Dienstags und freitags gab’s einen Löffel Marmelade und keine Wurst. Haben Sie jemals daran gedacht, aufzugeben?Nein, aber viele haben sich das Leben genommen, liefen in den Zaun, durch den 10.000 Volt flossen. Eines Abends kam ein Bekannter mit Durchfall eine Stunde später hing er im Draht, auch, weil seine Frau und sein Kind direkt nach Birkenau geschickt worden waren. Wie groß war Ihre Hoffnung, das Grauen zu überleben?Sie glauben gar nicht, welche Hoffnung man da hat. Was gab Ihnen Hoffnung?Ende 1943 wussten wir, dass der Krieg zu Ende geht. Es waren ja tausende Zivilisten im Werk. Wir wussten, was los war darauf gründete sich Hoffnung. Wie haben Sie die Befreiung von Auschwitz erlebt?Eigentlich gar nicht. Im Januar 1945 hörten wir, dass die Russen 60 Kilometer entfernt sind. Abends hieß es: Nicht auf die Blöcke. Wir bekamen 150 Gramm Brot zusätzlich, dann marschierten wir Richtung Gleiwitz, Auschwitz sollte geräumt werden. Wer nicht konnte wurde erschossen. Sie haben diesen Todesmarsch geschafft . . .In Gleiwitz standen offene Waggons, wir wurden mit 205 Leuten in einen gepresst. Erst hieß es nach Mauthausen, dann durch die Tschechei. Wir hatten nichts zu essen, nichts zu trinken. In unserer Not haben wir Stricke gemacht und in den Schnee hängen lassen, damit wir Flüssigkeit bekamen. Wie lange dauerte diese Tortur?Zehn oder zwölf Tage, 35 Tote hatten wir im Waggon. In der Tschechei schütteten Menschen von einer Brücke Brottaschen über uns aus nicht lange und die SS schoss auf sie. Wie ging es weiter?In Dresden hielten wir. Der Befehl lautete: Tote und Muselmänner (Kranke, Anm. d. Red.) raus. Die wurden erschossen, dann ging es weiter. Ziel war eigentlich Sachsenhausen, das war aber auch überfüllt. Endstation war das KZ Oranienburg. Ich kam in Quarantäne, wurde von einem Arzt untersucht und ins KZ Flossenbürg geschickt. Ich war einer der Jüngsten und kam auf einen Unbeschäftigten-Block, Arbeit musste ich mir selbst suchen. Wie haben Sie das gemacht?Ich hab überall darum gebettelt. Als Beruf gab ich Schlosser an. Am nächsten Tag wurde ich ins Kommando gerufen und habe an dem ME 109 Messerschmidt Jagdflugzeug genietet. Das dauerte aber nicht lang. Da sollte ich in die Schmiede und das, wo ich das doch gar nicht gelernt hatte. Wie sind Sie aus der Situation raus gekommen?Als ich zum Kapo kam, habe ich gezittert und war blass. Er sagte, dass die Amerikaner kurz vor Weiden stehen. Er meinte, ich solle ein Stück Metall in einem Schraubstock festmachen, ,und dann feilst du, bis nix mehr da ist und nimmst ein neues Stück . Nach drei Tagen hieß es Aus, Schluss, die Amerikaner kommen zu nah. Kam endlich Ihre Befreiung?Nein, wir wurden wieder verladen, in geschlossene Waggons. Gekommen sind wir bis Schwarzenfels, wo wir keine Lokomotive mehr kriegten. Unterwegs wurden wir von Alliierten beschossen, die nicht wussten, auf wen sie da zielen. Immer 200 Mann wurden aufgestellt und marschierten los mit einem Stück Käse, 150 Gramm Brot und 25 Gramm Margarine. Drei Tage sind wir nur nachts gegangen oft angeschnauzt von Ortsgruppenleitern, wie man uns Gesindel durch ihren Ort führen könne. Trotzdem flog ab und zu, ganz heimlich, Brot aus einer Tür. Gekommen sind wir bis Wetterfeld, wo wir uns in einer Scheune einquartierten, als ein Häftling rief: ,Die Russen kommen! Es waren die Amerikaner, die uns befreiten. Was haben Sie als erstes getan?Ich habe drei Tage hintereinander geschlafen. Wie waren Ihre ersten Kontakte in der Freiheit?In Wetterfeld lernte ich Zivilisten aus Krefeld kennen, die fragten, ob ich sie begleiten wolle da kam mein Heimweh. Der Mann schenkte mir einen Anzug, meine Häftlingskleidung nahm ich aber mit, als Andenken. Später in Rheda hat meine Tante sie verbrannt, weil sie keine Läuse haben wollte. Haben Sie erzählt, woher Sie kamen?Ich hatte keine Haare mehr und überall, wo ich auftauchte, wollten die Leute wissen, ob ich aus Russland komme und ich sagte Ja. Es war mir peinlich, zu sagen: Ich komme aus dem KZ. Warum?Anfangs traute ich keinem. Mir traute aber auch keiner. Auf dem Heimweg durfte ich im Haus einer Familie übernachten. Am Morgen sagte die Tochter zu mir: ,Wir haben gar nicht geschlafen, weil wir uns das nicht vorstellen konnten, mit einem, der aus dem KZ kommt.' Ihre Häftlingsnummer ist auffällig auf Ihrem linken Unterarm. Haben Sie die versteckt?Ja, ich trug auch im Sommer lange Ärmel. Ich wollte keine Fragen beantworten und meiner Familie keine Unannehmlichkeiten bereiten, denn Sie wissen nie, wie die Menschen reagieren. Haben Sie Negatives erlebt?Ich war 35 Jahre in einer großen, internationalen Firma. Da gab es viele braun Angehauchte. Wenn einer wusste, dass ich im KZ war, wurde ich angestänkert. Das war überall so. Es kamen ja viele in wichtige Positionen wie Hans Globke, der die Rassengesetze unterschrieb und bei Bundeskanzler Adenauer Staatssekretär war. Es sind so viele Alt-Nazis wieder eingestellt worden. Es wurde ihnen wohl vergeben. Empfinden Sie Hass?Nein, für mich war das 1945 abgeschlossen, ich war frei. Konnten Sie mit dem Grauen wirklich abschließen?Sie haben Recht, man kann nicht abschalten. Aber was nützt es, immer darüber nachzudenken. Trotzdem sehe ich mir jede Sendung dazu an. Warum?Da denke ich, was ich für ein Glück hatte, davon gekommen zu sein. Manchmal kommen mir auch die Tränen, wenn ich sehe, wie die Menschen misshandelt wurden, wenn ich die Berge von Leichen sehe . . . Ich kann nicht dankbar genug sein, dass ich nach Auschwitz III kam, dass ich Freunde gefunden und überlebt habe. Ich frage mich aber auch, ob es Gerechtigkeit gibt. Sie haben später in einem Prozess als Zeuge ausgesagt.Das war gegen Hauptscharführer Bernhard Rackers Mitte der 50er Jahre in Osnabrück. Doch auch wenn der später zu Lebenslänglich verurteilt wurde, war das eine böse Erfahrung. Denn bei jeder meiner Aussagen meldete der Verteidiger, dass etwas nicht stimme. Der hat versucht, aus einem Verbrecher ein Opfer zu machen. Da wusste ich, dass ich nie wieder vors Gericht gehe. Nach dem Krieg sind Sie nach Rheda gegangen.Dort lebte die Familie meiner Mutter. Ich war im hessischen Alzenau und dachte, dass es gar nicht so weit sei und bin zu Fuß bis nach Warburg. Unterwegs überholte mich ein Gaskocher-Auto, voll mit Leuten. Mit dem bin ich bis Rietberg mitgefahren. Von da nach Rheda ist es nur noch ein Katzensprung. Wann sind Sie angekommen?Am 1. Juni 1945 war ich auf der Wegböhne. In dem Moment kam meine Cousine aus dem Haus, sah mich und rief nur: ,Mein Gott, Hermannlein“ . Wussten Ihre Verwandten vorher, wo Sie sind?Ich hatte meiner Tante geschrieben. Doch sie hat mir nicht geantwortet aus Angst. Wem haben Sie später erzählt, dass Sie im KZ waren?Meiner Frau und unseren Kindern, aber auch einigen Genossen von der SPD. Waren Sie noch einmal in Auschwitz?Ich war 1997 mit meinem Neffen dort. Ich habe, als ich durch Auschwitz I ging, die abgeschnittenen Haare, die Koffer, die Drei-Liter-Dosen Zyklon B oder den Galgen sah, geheult wie ein Schlosshund. Sie haben jüngst mit Ratsgymnasiasten gesprochen. Warum gaben Sie sich denen zu erkennen?Erst war ich skeptisch und hatte Angst, wie Jugendliche heute sind. Getan habe ich es aus Freundschaft zu einer Genossin. Vor 20 Jahre war ich da schon mal, mit einer schlechten Erfahrung: Die Jugendlichen haben nicht auf mich reagiert. Das war jetzt anders?Jetzt haben sie viel gefragt, wir hatten gute Gespräche. Wie wollen Sie Jugendliche gegen nationalsozialistisches Gedankengut wappnen?Man muss ihnen sagen, was Sache war. Wenn ich das nötige Geld hätte, würde ich mit allen jungen Leuten nach Auschwitz fahren. Dann könnte niemand mehr sagen, dass es den Holocaust nicht gegeben hat.

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