Rheda-Wiedenbrück. Es gibt Menschen, die beklagen die Einschränkung der persönlichen Freiheit. Bei Peter Stein stellen sich in diesen Tagen eher gegenläufige Empfindungen ein. Der 66-Jährige freut sich auch zu Ostern 2020 über den Gewinn von persönlicher Freiheit. Der Grund: Ostermontag ist es exakt 40 Jahre her, dass ihm unter abenteuerlichen Umständen an Bord eines Kohle-Frachtschiffs die Flucht von Ost- nach West-Berlin gelang. Stein weiß noch alle Details vom 8. April 1980.
Geboren in Krina (Kreis Gräfenhainichen), damals Bezirk Halle/Saale, lernt er nach der polytechnischen Oberschule im Chemie-Kombinat-Bitterfeld (CKB) den Beruf des Chemiefacharbeiters. Seinen zweijährigen Armeedienst absolviert er bei einer Spezialeinheit für chemische Kampfstoffe in Bad Düben. Obwohl kein überzeugter Anhänger der Parteilinie, tritt er auf Drängen seiner Vorgesetzten in die Sozialistische Deutsche Einheitspartei (SED) ein. „Die Armee war zufrieden, aber ich nicht", sagt Stein.
Stein hält mit seiner Meinung nicht hinterm Berg
Als zwei Kameraden bei der Erprobung von Giftstoffen auf einem Testgelände in Berlin zu Tode kommen, beginnt er an der Sinnhaftigkeit seines Dienstes zu zweifeln. Weil er beim Schmuggel von Alkohol in das Kasernengelände ertappt wird, verliert Stein seinen Rang als Gefreiter. Aus der Armee wird er dennoch im Range eines Unterleutnants der Reserve entlassen.
Stein kehrt in sein Kombinat zurück, arbeitet in der Waschmittel- und Farbstoffproduktion und wird als Schichtleiter mit Personalverantwortung für 31 Beschäftigte so etwas wie ein sozialistischer Vorzeigearbeiter. Für angeblich vorbildliche Planerfüllung erhält er Belobigungen, Geldprämie und eine Russland-Reise. Doch die Wahrheit ist eine andere. Die Pläne werden nicht erfüllt. Stein weiß das und hält mit seiner Meinung nicht hinterm Berg. Dafür muss er sich vor der Parteileitung verantworten, soll aus der SED gedrängt werden. Man versucht, ihm einen Scheckbetrug nachzuweisen, und klagt ihn wegen seiner langjährigen Beziehung zu einem Mädchen wegen Verführung Minderjähriger an.
Eine Fünf-Mark-Münze entscheidet über die Route
In dieser Lage sieht er für sich keine Zukunft mehr im SED-Staat und fasst den Entschluss zur Republikflucht. Eine Fünf-Mark-Münze spielt Schicksal und entscheidet über die Fluchtroute. Stein will die Grenze über die Berliner Mauer überwinden und nicht per Bahn in die Bundesrepublik. Karsamstag trifft er in Ost-Berlin ein. Er erkundet den Checkpoint Charly an der Friedrichstraße und erkennt, dass die Flucht hier wenig Chance auf Erfolg bietet. Eine Chance wittert er, als er mit Kokskohle beladene Schiffe auf der Spree unterhalb des damaligen Palasts der Republik entdeckt. Die Schiffe versorgten damals West-Berlin mit Brennmaterial. Bis dahin sind es nur wenige Fahrminuten die Spree hinab.

Als der damals 26-Jährige die Örtlichkeiten auskundschaftet, nehmen ihn Grenzsoldaten fest und liefern ihn der Staatssicherheit (Stasi) aus. In deren Hauptquartier an der Normannenstraße wird er verhört. Weil man ihm nichts nachweisen kann, wird Stein am nächsten Tag freigelassen. Danach ist sein Entschluss zur Flucht fester denn je. „Jetzt musste weg", schießt es ihm durch den Kopf.
An Bord eines Frachtschiffes geschlichen
Stein weiß, dass die Kohleschiffe um 6 Uhr ablegen, da die Grenze so lange geschlossen ist. Am Ostermorgen um 4.45 Uhr schleicht er sich an Bord eines Frachtschiffs, versteckt sich im Laderaum. „Wenn ich mich in den Koks eingrabe, können die Hunde mich nicht wittern", denkt er. Dabei weiß er als Chemiefacharbeiter, dass die Ausdünstungen des Koks zu Ohnmacht führen können. Stein zieht sich seinen Parka über den Kopf und gräbt sich erst ein, als das Schiff abgelegt hat. Zehn Minuten später kommen Grenzsoldaten mit Hunden auf das Schiff. Die Tiere laufen über ihn hinweg, sein Herz rast, doch sie schlagen nicht an. Als das Kommando „Los, komm runter" ertönt und die Motoren wieder angeworfen werden, denkt er erleichtert: „Jetzt biste durch."
Stein befreit sich aus dem Kokshaufen, verlässt den Laderaum, geht an Deck und wird dort, auf West-Berliner Territorium, vom völlig verdutzten Bootsführer entdeckt. Der weiß nicht, was er mit dem blinden Passagier anstellen soll. Eine West-Berliner Polizeibootstreife, der Stein zuwinkt, dreht ab. Knapp vier Stunden nach Beginn der abenteuerlichen Flucht legt das Schiff in Berlin-Moabit an der Schleuse an. Für Stein die Gelegenheit, von Bord zu gehen. „Ich bin abgehauen aus dem Osten", stellt er sich dem Schleusenwärter vor, worauf der nur ruft: „Raus, raus, raus – da ist ein Tor."
"Haben mich angeguckt wie ein Weltwunder"
Direkt an der Schleuse öffnet ein Kiosk. Es ist 9 Uhr. Als Stein vor seiner soeben geglückten Republikflucht berichtet, spendet der Betreiber ihm Bier und Schnaps. Dann ruft er die Polizei, die das Ganze jedoch für einen Scherz hält und nicht erscheint. Ein Fahrschulwagen bringt Stein dann zur nächsten Polizeiwache. „Als ich mich mit meinem Ost-Ausweis vorgestellt habe, haben die mich angeguckt wie ein Weltwunder", erzählt Stein. Nach erfolgter Identifizierung weicht die Skepsis der Beamten einer spürbar freundlicheren Behandlung. Stein darf duschen, bekommt Kaffee und Zigaretten angeboten, wird danach jedoch wegen des Vier-Mächte-Status' von Berlin den Amerikanern überstellt.
In deren Quartier wird er ordentlich behandelt, wird wegen seiner Armeeerfahrungen in der chemischen Kampfführung intensiv befragt. In dieser Zeit wird auch seine abenteuerliche Flucht öffentlich bekannt. „Er sah die Leiter – schwupp, schwupp – weg war er", titelt die Berliner Zeitung in großen Lettern. Nach 14 Tagen überstellen ihn die Amerikaner an die Franzosen. Es folgen weitere Befragungen, ehe es für zwei Wochen zu den Briten geht. Die bieten Stein Kanada und Australien als neue Heimat an. Das lehnt er ab. So fliegen ihn die Briten nach zwei Wochen nach Hannover aus. Vor dort gelangt Stein in ein Auffanglager in Gießen, wo eine mehrwöchige Befragung durch den deutschen Geheimdienst folgt.
Endgültig in der Bundesrepublik angekommen ist er, als er nach vier Monaten in Frankfurt eine eigene Wohnung bezieht. In die westdeutsche Arbeitswelt steigt er mit einem Aushilfsjob bei einem Schausteller-Unternehmen ein. Durch die Bekanntschaft zu einer Westfälin kommt Stein 1986 nach Rheda-Wiedenbrück. Seinen Lebensunterhalt verdient er als Beschäftigter bei zwei Gütersloher Tiefbauunternehmen. Heute genießt der 66-Jährige, der in Rheda zu Hause ist, seinen Ruhestand - und sein Leben in Freiheit.