Im Harsewinkler Familienzentrum ist die Corona-Krise täglich spürbar

Harsewinkel. Sie würde lieber eine fröhliche Weihnachtsgeschichte erzählen. Eine von harmonischen Familien, die sich trotz oder gerade wegen Corona enger zusammenfinden, gegenseitig stärken, für einander da sind. Doch die Weihnachtsgeschichten, die Gudrun Greve in diesen Wochen erlebt, bilden oft genau das Gegenteil ab. In der Realität vieler Harsewinkeler Familien sind Überforderung, Existenzangst, Stress, Streit, Gewalt an der Tagesordnung. Dem setzt die Beraterin des Mütter- und Familienzentrums MiniMaxi ihren täglichen Kampf um Ausgleich, Entlastung, Hilfe entgegen. Eine kleine Weihnachtsbotschaft hat die Sozialpädagogin immerhin. Sie hat sich für das Projekt &bdquo;Sicherstellung der Mittagsverpflegung in Coronazeiten" durch den Paragrafen-Dschungel geschlagen, In unkonventioneller Absprache mit dem Jobcenter wurden nicht abgerufene Gelder aus dem Bildungs- und Teilhabepaket umgeleitet. &bdquo;Wir müssen auch mal unmögliche Wege gehen" Ab Montag, 28. Dezember, sollen so Familien bis weit ins nächste Jahr entlastet werden, deren Kinder sonst in der Kita oder der Schulmensa durch eine Mittagsmahlzeit satt würden. Diese Mahlzeiten will das MiniMaxi nun ersetzen und damit auch den schmalen Geldbeutel der Eltern entlasten. Vom Familienzentrum am Prozessionsweg rufen die Helfer die Eltern an, fragen Bedarfe an Lebensmitteln ab. Ehrenamtliche gehen einkaufen und bringen die Sachen zu den Familien an die Haustür. Für die Familien ist dies eine spürbare Hilfe. &bdquo;Wir müssen neu, anders denken und auch mal unmögliche Wege gehen", fordert Gudrun Greve angesichts der Nöte, die es auch in einer auf den ersten Blick heilen Welt wie Harsewinkel gibt. Sie ist froh über das über Jahrzehnte gewachsene Netzwerk des als Verein organisierten Familienzentrums. &bdquo;Aus allen Bereichen packen Menschen mit an", sagt sie dankbar. Der Verein könne schnell und unkompliziert agieren. Einige Paten betreuen – ähnlich wie in der Flüchtlingshilfe – &bdquo;ihre Familie". Aber dies ist in Coronazeiten nicht umzusetzen. &bdquo;Die Frauen trifft es von allen Seiten am härtesten" Natürlich bleibt auch das im Kreis Gütersloh bisher einmalige Mittagessenprojekt nur ein Baustein angesichts der Herausforderungen, die Familien am unteren Rand der Gesellschaft schon ohne Corona stemmen müssen. Die Krise legt schonungslos offen, wie es diejenigen durch Lockdown, Kurzarbeit oder Jobverlust trifft, die ohnehin kaum Reserven in jedweder Form haben. Gudrun Greve erzählt von den verzweifelten Anrufen im März, als die Coronamaßnahmen griffen. &bdquo;Alles war abrupt vorbei, für viele brach um 8 Uhr morgens auf einmal alles zusammen", wundert sie sich über die Ad-hoc-Entscheidungen der Politik. &bdquo;Die Frauen trifft es von allen Seiten am härtesten", beobachtet sie die Mechanismen, die von den Müttern mehr abverlangen, als diese ertragen, abfedern, ausgleichen können. &bdquo;Viele der Mütter, die wir vom MiniMaxi unterstützen, haben selbst nur einen Mini-Job", erklärt sie. Gastronomie, Veranstaltungsbereich – die typischen Jobs fallen ersatzlos weg. Mit den Kindern sitzen plötzlich die Partner in Kurzarbeit mit am Tisch in viel zu kleinen Wohnungen, die keine Rückzugsmöglichkeiten bieten. Das gekürzte Einkommen sorgt für zusätzliche Spannungen. An mancher Stelle drücken Hypotheken. &bdquo;Da kommt mit Verzögerung noch der dicke Hammer", befürchtet Greve. Daraus resultierend erlebt sie in diesem Jahr viel Streit, Ehekrisen, Scheidungen, begleitet von noch größeren finanziellen Nöten. &bdquo;Die Größeren verabschieden sich im Distanzunterricht innerlich von der Schule" Als erst im Frühjahr und nun wieder im Herbst die Kinderbetreuung wegbricht, die Eltern plötzlich mit den Kindern im &bdquo;Homeschooling" sitzen, gibt es von allen Seiten Hilferufe. Der Distanzunterricht überfordert, so nimmt Greve es wahr, alle Beteiligten – Schulen, Schüler, Eltern. &bdquo;Die Kinder am unteren sozialen Rand lernen weniger", sieht sie gerade bei den Grundschülern aus bildungsferneren Schichten einen Schneeballeffekt. &bdquo;Was die in der ersten Klasse nicht lernen, holen sie viel langsamer nach", befürchtet sie. Einkommen und Bildungsgrad der Eltern lassen die Schere zwischen arm und reich noch weiter aufgehen. &bdquo;Nicht alle Kinder sind online so aufgestellt, dass sie dem Unterricht folgen können", stellt Greve, die in ihrer langen Karriere auch auf ihren beruflichen Stationen als Gemeindepädagogin einer Kirche, Schuldnerberaterin, Deeskalationstrainerin an Schulen, Mediatorin und systemische Familienberaterin wertvolle Erfahrung aus allen Bereichen mitbringt, fest. Die Probleme ziehen sich bis in die Abschlussklassen durch. &bdquo;Die Größeren verabschieden sich im Distanzunterricht innerlich von der Schule. Wie sollen die im Sommer einen Ausbildungsplatz finden, wenn die Firmen wegen der unsicheren Lage nicht einstellen?", fragt sie sich. Der Verein MiniMaxi überlegt, im Sommer eine Bufdi-Stelle zu schaffen, um wenigstens einen jungen Menschen sinnvoll aufzufangen. Die Beratung am Telefon reicht nicht aus Greve merkt, dass den Frauen in ihren Doppel- und Dreifachrollen die aufgezwungene Distanz nur mit Distanzberatung nicht reicht. &bdquo;Einer weinenden Mutter kann ich am Telefon nur bedingt helfen", sagt sie. Also baut sie ihr Büro coronagerecht um. Erreichbar ist es über die Außentreppe. Die Frauen genießen in den Gesprächen Schutz, Trost, konkrete Hilfe. Das MiniMaxi bietet seit Sommer sogar wieder Präsenzveranstaltungen draußen im Garten an. Die Begegnung – selbst auf Distanz – ist wichtig. Wo es nicht geht, helfen Online-Konferenzen im Internet. Gudrun Greve seziert nüchtern jedes einzelne Thema. Doch die Geschichten dahinter lassen erahnen, wie viel soziales Elend über Menschen in prekären Lebensverhältnissen in Harsewinkel hereingebrochen ist. Im Frühjahrs-Lockdown setzt auch noch das Café Zuwachs für Mutter und Kind zwangsweise aus. So bleibt nur der Onlinekontakt über Zoom. Das Angebot nehmen die Frauen dankbar an. Als &bdquo;Katastrophe" beschreibt Greve die Lage für junge Mütter, die Anfang März auf sich alleine gestellt bleiben. Ihr Team gibt nicht auf, der Babybesuchsdienst kommt weiter – auf Distanz – vorbei. Die Helfer stellen die Tasche mit nützlichen Utensilien vor der Tür ab. Als der Tönnies-Skandal mitten im Sommer erneut alles lähmt, geht es ans Eingemachte. Das Team setzt alle Hebel in Bewegung, um den Frauen draußen das Gefühl zu geben, dass sie nicht vergessen sind und sich selbst wertschätzen. Das MiniMaxi bietet online Yogakurse für Mütter an. Basteltipps, um die Kinder bei Laune zu halten, gibt es über die sozialen Medien. &bdquo;Ich bleibe die ganze Zeit telefonisch erreichbar" &bdquo;Gerade da, wo sonst die Großeltern als Kinderbetreuer ausgeholfen haben, tut sich ein zusätzliches Problem auf, weil die plötzlich besonders geschützt werden müssen", fügt sie eine weitere Angst hinzu. Spricht von den psychisch Erkrankten, die nicht mehr aufgefangen werden können. Zwei Menschen, die sie sonst betreut hat, haben Selbstmord begangen. Schweigen. Sich selbst gönnt Gudrun Greve nur eine kurze Weihnachtspause. &bdquo;Ich bleibe die ganze Zeit telefonisch erreichbar", signalisiert sie ihren Frauen. Wann sie wieder Präsenssprechstunden geben kann? &bdquo;Das kann noch lange dauern", sagt sie.

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