Mutmaßliche Gruppenvergewaltigung: Angeklagte könnten straffrei bleiben

Gütersloh. Da waren selbst die erfahrensten Verteidiger baff: Obwohl sich die Trendwende im Prozess um die mutmaßliche Gruppenvergewaltigung in Harsewinkel bereits an den letzten beiden Verhandlungstagen angedeutet hatte, reagierten die Anwälte der neun Angeklagten sichtlich überrascht auf die Deutlichkeit, mit der die Jugendschutzkammer des Bielefelder Landgerichts gestern den Zwischenstand des Verfahrens erörterte. Die Vorsitzende Richterin Beate Schlingmann kam damit der Aufforderung der Verteidiger nach einer Einschätzung nach, da sich im Laufe der Verhandlung erhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Opfers sowie an den Ermittlungen der Polizei nach dem Vorfall ergeben hatten. &bdquo;Die Kammer sieht, dass die Zeugin klar die Unwahrheit gesagt hat – besonders, was ihre Bekanntschaft mit Angeklagten angeht. Sie hat sich darauf berufen, sich nicht richtig zu erinnern – besonders, wenn Fragen unangenehm waren; und dann wusste sie doch etwas. Die Kammer hat auch Zweifel an der ersten Darstellung, dass zu keinem Zeitpunkt im Raum gestanden habe, dass es zu sexuellen Handlungen kommen könnte. In ihrer zweiten Aussage ist sie davon abgerückt", erklärte Richterin Schlingmann. Eine Verurteilung auf dieser Basis sei nicht möglich. "Es gibt keine sichere Antwort nur durch die Aufnahmen" &bdquo;Was als Grundlage bleibt, ist das, was auf den Videos zu sehen ist. Allein der Umstand, dass mehrere Beteiligte gleichzeitig sexuelle Handlungen vollzogen haben, kann jedoch kein Schluss darauf sein, dass es gegen ihren Willen geschah." Auch, was den Grad der Alkoholisierung betrifft, könne man von den Videos keine Rückschlüsse auf die Steuerungsfähigkeit der heute 16-Jährigen ziehen. &bdquo;Man sieht, dass sie deutlich alkoholisiert war, das ist aber nicht automatisch damit gleichzusetzen, sexuelle Handlungen zu wollen oder nicht zu wollen und das nach außen zu zeigen", sagte Schlingmann, die zur Klärung der Frage, ob die damals 14-Jährige in ihrem Zustand fähig war, ihren Willen zu äußern, zwischenzeitlich Rat beim Institut für Rechtsmedizin in Münster eingeholt hatte. Ergebnis: &bdquo;Es gibt keine sichere Antwort nur durch die Aufnahmen. Das wäre nur durch ein toxikologisches Gutachten möglich, aber eine Blutprobe liegt nicht vor", erklärte die Richterin. &bdquo;Das bedeutet, dass die Kammer die Annahme, dass die Zeugin durch Trunkenheit beeinträchtigt war, aufgrund der Videos nicht treffen kann." Dem Antrag der Anwältin der Nebenklägerin, die Öffentlichkeit in der anschließenden Erörterung des Verfahrensstandes aus Gründen des Opferschutzes auszuschließen, kam die Kammer nicht nach. Vielmehr folgte sie in ihrer Entscheidung den Ausführungen der Verteidiger der Angeklagten, die darauf bestanden, dass auch der Rest des Verfahrens öffentlich laufen solle. Zur Begründung führten sie an, die Schutzbedürftigkeit der Zeugin sei nach ihren Lügen vor Gericht verwirkt. &bdquo;Die Angeklagten sind alle öffentlich an den Pranger gestellt worden. Im Internet wurde gefordert: Stellt die Galgen auf und hängt sie. Sie mussten sich hier an jedem Verhandlungstag dem Verfahren stellen und intimste Details preisgeben", sagte Friedbert Teutenberg. Sein Kollege Willemsen betonte, dass er ein erhebliches Mitverschulden an der verfahrenen Situation bei den Ermittlern sehe. &bdquo;Wenn von Anfang an in alle Richtungen ermittelt worden wäre, säßen wir heute nicht hier." Der Gütersloher Anwalt Martin Rother schloss sich ebenfalls an: &bdquo;Selbst, wenn Freisprüche rauskommen, wovon ich ausgehe, ist der Flurschaden so groß, dass in der Öffentlichkeit einige Dinge klargestellt werden müssen." "Was bleibt, ist ein niederschwelliger sexueller Übergriff" In der anschließenden Erörterung wurde deutlich, um was es für die Angeklagten eigentlich noch geht und dass von den Vorwürfen aus der Anklageschrift am Ende nicht viel übrig bleiben wird. Auch der Gewaltvorwurf gegen den Beschuldigten T. ist offenbar vom Tisch. &bdquo;Was bleibt, ist ein niederschwelliger sexueller Übergriff", erklärte Richterin Schlingmann. Bei vier der Angeklagten standen jedoch noch weitere Straftaten im Raum, von Ladendiebstahl bis hin zum Erstellen und Verbreiten der Videos. Hierzu wurden die Mitarbeiterinnen der Jugendgerichtshilfe des Kreises Gütersloh gehört, die ihre Vorschläge unterbreiteten. Neben einer Kurzintervention bei einem Gütersloher Sexualtherapeuten oder einem sozialen Trainingskurs für den heute 16-jährigen Beschuldigten A. sahen sie in ihren Beurteilungen von weitergehenden Maßnahmen wie beispielsweise Sozialstunden ab. Sie könne dem Anwalt von A. folgen, sagte Elke Seidel. Alexander Strato hatte zuvor angeregt, die weiteren Tatvorwürfe gegen seinen Mandanten einzustellen. &bdquo;Der Grundgedanke eines Strafverfahrens ist es, Erziehung herbeizuführen. Diese Erfahrungen hat mein Mandant gesammelt", sagte der Bielefelder Verteidiger. &bdquo;Wenn man durch die vielen Gerichtstermine gegangen ist, hat das Wirkungen", meinte auch Seidel. Von Sozialstunden sehe sie ab, weil das Verfahren in der Öffentlichkeit sehr präsent sei. &bdquo;In Harsewinkel gibt es keine Einrichtung, die bereit ist, die Angeklagten aufzunehmen." Urteil wird kommende Woche erwartet Geht es nach der Jugendgerichtshilfe, sollen auch die Diebstähle in der Gütersloher Karstadtfiliale sowie eines nicht abgeschlossenen Fahrrads keine strafrechtlichen Konsequenzen für die Angeklagten haben. &bdquo;Wer nach zwölf Verhandlungstagen nicht gemerkt hat, was auf Straftaten folgt, dem ist auch mit einer Maßnahme nicht zu helfen." Die Mitarbeiterinnen der Jugendgerichtshilfe verwiesen zudem auf die schwierigen sozialen und familiären Verhältnisse der Jugendlichen, von denen ein Großteil aus Syrien nach Deutschland geflüchtet ist. Ein Urteil wird in der kommenden Woche erwartet.

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