Ex-Obdachloser erzählt in Gütersloh von Leidenszeit: „Habe nicht geglaubt, 30 zu werden“

Herr Bloh, Ihre Mutter hat Sie aus der Wohnung geworfen, als Sie 16 Jahre alt waren. Wie kam es dazu, dass Sie plötzlich auf der Straße landeten? Dominik Bloh: Das ist bei mir passiert wie bei den meisten anderen Menschen, die obdachlos werden, nämlich unverschuldet. Meine Mutter war mit zwei Kindern alleinerziehend und in der Altenpflege tätig. Das hat sie aber so angestrengt, dass sie zuerst einen Burnout bekommen hat und nicht mehr ihrer Arbeit nachgehen konnte und dann an einer Depression erkrankte. Über die Jahre verschlechterte sich ihr Zustand, es wurde schließlich eine Schizophrenie diagnostiziert. Meine Mutter war durch die psychische Erkrankung derart überfordert, dass sie nicht mehr Mutter sein konnte. Sie hat ihre Vormundschaft aufgegeben. Konnten Sie diese Entscheidung nachvollziehen? Ich mache meiner Mutter dafür bis heute keine Vorwürfe. Auch als Jugendlicher habe ich gewusst, dass meine Mutter krank ist. Ich bin mir deshalb sicher, dass das ihre schwerste Entscheidung Ihres Lebens war. Nichtsdestotrotz hat sie in einer Februarnacht den für mich noch schwerwiegenderen Entschluss gefasst, in mein Zimmer zu kommen und mir zu sagen, dass sie es auch nicht mehr schafft, mit mir in einer Wohnung zu sein. Sie hat mir eine Stunde Zeit zum Packen gegeben, dann habe ich die Wohnung verlassen. So habe ich mit 16 Jahren meine ersten Schritte auf der Straße gemacht. Gab es denn niemanden, der Sie auffangen konnte? Ich habe mich mitgeteilt. Ich habe in der Schule meine Situation erklärt und gesagt, dass ich nicht wüsste, wohin ich gehen könnte. Daraufhin hat mir die Schule mitgeteilt, dass sie dafür sorgen müsse, dass die 30 Kinder meiner Klasse den Realschulabschluss schaffen, sie könnten sich nicht um mich kümmern. Und was haben Sie dann gemacht? Ich habe beim Kinder- und Jugendnotdienst angefragt, die haben mir gesagt, dass ich nicht minderjährig sei und sie mir auch nicht weiterhelfen könnten. Das Jugendamt hat gesagt, dass ich ein Heranwachsender sei und die Zuständigkeit nicht bei ihnen läge. Und die Familienbehörde hat gesagt: Du bist kein Heranwachsender, deshalb übernehmen wir deinen Fall nicht. So hatte ich meine Odyssee durch das Hilfesystem, das aber nicht in der Lage war, einem obdachlosen 16-Jährigen zu helfen. Das heißt, Sie haben sich eigenständig bei den Behörden um Hilfe bemüht, aber keine bekommen. Ja, das ist so. Stattdessen wurde ich als Erstes von der Schule verwiesen, denn eine Schule darf man nur mit fester Meldeadresse besuchen. Das ist, so würde ich mal behaupten, das komplette Gegenteil von Unterstützung. Wie ist es gelungen, trotzdem das Abitur zu machen? Dankenswerterweise waren engagierte Lehrer mit dem Schulverweis nicht einverstanden und haben über Bekannte den Kontakt zu einem Schulleiter geholt, der mich – mit ein bisschen Trickserei – auf seine Schule geholt hat. Ich habe danach innerhalb von zwei Jahren meinen Realschulabschluss an einer Berufsschule gemacht und dann über einen weiteren Schulleiter aus diesem Netzwerk das Abitur auf dem Wirtschaftsgymnasium. Wie konnten Sie sich trotz Ihrer Lebensumstände dazu motivieren? Dass ich das geschafft habe, hat zwei sehr unterschiedliche Gründe. Zum einen war die Schule von Montag bis Freitag von 8 bis 13.30 Uhr ein warmer, sicherer Raum für mich. Und allein das hat mir schon völlig gereicht, um gerne zur Schule zu gehen. Außerdem war sie der letzte Ort, an dem ich noch irgendwie dazugehört habe. Als Straßenjunge habe ich mich damals schon sehr wertlos gefühlt. Ich war mir aber bewusst: So lange ich zur Schule gehe, bleibe ich ein Schüler und war somit ein Teil von etwas. Warum haben Sie gleich zwei Bücher über Ihre Obdachlosigkeit geschrieben? Ich wollte das zweite Buch, &bdquo;Die Straße im Kopf“, schreiben, weil es für mich kein Happy End war, von der Straße gekommen zu sein und nun einen Schlüssel für die eigene Wohnung in der Hand zu halten. Es kamen ganz neue Herausforderungen mit dem Ankommen auf mich zu. Ich musste mein Zuhause quasi wiederfinden, das brauchte Zeit und Geduld. So hat es sieben Jahre gedauert, bis ich meinen Kühlschrank angeschlossen habe, weil ich es nicht gewohnt war, auf diese Weise meine Lebensmittel aufzubewahren. Sie haben Erfahrungen gemacht, die man als Jugendlicher nicht machen sollte: Kälte, Hunger, Gewalt und Angst, wie es am nächsten Tag weitergeht und wie man die Nacht überlebt. Wie sehr verfolgen Sie diese Erfahrungen noch heute oder haben Sie das schon verarbeitet? Mein zweites Buch heißt deshalb &bdquo;Die Straße im Kopf“, weil ich gespürt habe, dass mich, obwohl ich eine Wohnung habe, die Straße nicht loslässt. Im Hiphop gibt es den Spruch: &bdquo;Man kann den Jungen von der Straße holen, aber die Straße nicht aus ihm.“ Damals ging es für mich ums Überleben. Heute kann ich sagen, dass ich ein Leben führe. Lesen Sie auch: Erschütternde Einblicke einer Gütersloherin: Was Armut wirklich bedeutet Natürlich sind all die Erfahrungen noch in mir. Sie haben mich geprägt und zu dem gemacht, der ich bin. Ich konnte etwas Negatives in etwas Positives umformen und heute auf die Bühne gehen und über mein Leben als Obdachloser sprechen. Das ist für mich unglaublich, weil ich mir damals nicht sicher war, ob ich jemals aus diesem Teufelskreis werde ausbrechen können. Ich habe nicht geglaubt, 30 Jahre alt zu werden. Sie haben aber auch Hilfe und Solidarität erfahren. Haben Sie unsere Gesellschaft eher als eine empathische oder als eine sozial sehr gespaltene erlebt? Das ist eine interessante Frage: Ist das eine positive Erfahrung, wenn erwachsene Menschen einem Kind von der Straße den Zugang zur Schulbildung verschaffen oder ist es das Mindeste, was man tun sollte? Bei mir passiert gerade etwas ganz Spannendes: Mein Leben und mein Buch &bdquo;Unter Palmen aus Stahl“ werden verfilmt, Detlev Buck übernimmt die Regie, im Herbst sollen die Dreharbeiten starten. Wir schreiben gerade am Drehbuch. Für den Film haben wir einen Protagonisten und einen Antagonisten, also einen Gegenspieler, entwickelt. Dabei ist mir bewusst geworden, dass es nicht den Feind auf der Straße gibt, sondern dass eher das Desinteresse am Schlimmsten ist. Mir scheint es tatsächlich so, dass es einem großen Teil der Menschen egal ist, wie es anderen Menschen ergeht, auch wenn sie deren prekäre Lebenslagen sehen. Was hat Ihnen am meisten in dieser Zeit geholfen, war es das Schreiben? Ich würde sagen, das Schreiben hat mir das Leben gerettet. Ich schreibe seit meiner frühesten Erinnerung. Stift und Papier haben mich durch alles begleitet. Nichtsdestotrotz hat es 27 Jahre gebraucht, bis ich verstanden habe, dass das Schreiben mein Talent ist. Erst als ich verstanden habe, dass das Schreiben zu mir gehört, konnte ich mich auf den Weg machen, ein Schriftsteller zu werden. Deshalb habe ich in meinem zweiten Buch geschrieben: &bdquo;Der Junge der Straße wurde zu einem Mann der Schrift.“ Seitdem ich das erkannt habe, hat sich viel geändert. Was bedeutet Ihnen Ihre schriftstellerische Begabung? Ist sie ein Privileg? Ich sehe sie nicht als Privileg, sondern ich sehe es als meine Pflicht an, durch das Schreiben ein Sprachrohr der Obdachlosen zu sein. Das liegt daran, dass ich nicht vergessen kann, woher ich komme. Schon auf der ersten Seite meines neuen Buches schreibe ich von &bdquo;Überlebensschuld“. Was meinen Sie damit? Für mich ist das schon krass, wenn ich bedenke, wie gut es mir heute geht, und ich dann irgendwo aus einem Hotelfenster schaue und Menschen mit ihrem Schlafsack auf der Straße sehe. Lesen Sie auch: Traurige Schicksale: Mehr als 800 Gütersloher haben keine Wohnung Dann denke ich: Warum bist du jetzt hier und schläfst in einem bequemen Boxspring-Bett und nicht mehr dort unten? Deshalb ist es für mich wichtig, eine Stimme zu bleiben für meine Leute. Wie werden Sie denn von Ihren Leuten heute wahrgenommen? Werden Sie noch als einer der Ihrigen gesehen? Ja, und das ist wunderbar für mich. Ich hatte immer ein bisschen Angst zurückzukommen zu den Menschen, die auf der Straße überleben, weil ich befürchtete, dass die mit Missgunst oder Neid reagieren. Aber das war nur ein Hirngespinst von mir. Das Gegenteil war der Fall. Die waren froh, dass es einer von Ihnen wieder heraus geschafft hat. &bdquo;Das gibt uns Mut, daran zu glauben, dass es auch für uns wieder besser werden kann“, wurde mir gesagt. Vielen ist es seither gelungen, auch ihren Weg zu gehen und es herunter von der Straße zu schaffen. Deshalb ist es mir wichtig, mit einem Bein immer auf der Straße zu sein. Das tun Sie auch mit Ihrem Projekt &bdquo;GoBanyo“, dem Duschbus für Menschen auf der Straße. Ja genau, ich stehe hier auch gerade, während wir uns unterhalten, mit dem Handy vor dem Duschbus am Millerntorplatz in Hamburg, um aktiv mitzuhelfen. Ich habe mal geschrieben: &bdquo;Ich war so lange dreckig, dass ich dachte, ich sei Dreck.“ Denn ich denke, sich waschen zu können, ist ein menschliches Grundbedürfnis und ein Menschenrecht. Ich sehe den Duschbus als eine Hilfe zur Selbsthilfe. Man verliert sonst sein Selbstwertgefühl. Durch den Bus können wir dieses Gefühl wieder stärken und den Menschen auf der Straße den Mut geben, vielleicht dann auch die nächsten Schritte zu gehen. Sie engagieren sich auch politisch für mehr bezahlbaren Wohnraum und haben die vorherige Bundesregierung beraten. Hat das was gebracht? Ja, ich denke schon. Ich war bei der Bundespressekonferenz dabei, als im vergangenen Jahr der Nationale Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit vorgestellt wurde und die damalige Bauministerin Klara Gleywitz eingestehen musste, dass über Jahrzehnte eine verfehlte Wohnungsbaupolitik betrieben wurde. Mit diesem Eingeständnis muss man nun an die Lösung des Problems gehen. Ich bin mir sicher, dass die Wohnkrise eine der größten Herausforderungen der Zukunft ist. Deshalb wünsche ich der neuen Bauministerin Verena Hubertz ganz viel Erfolg in ihrem neuen Amt und hoffe, dass wir uns kennenlernen und zusammenarbeiten können. Apropos neue Bundesregierung: Mit der aktuellen Bundestagspräsidentin Julia Klöckner hatten Sie ja vor ein paar Jahren in einer Talkshow eine interessante Begegnung. Sie hatte Ihnen damals gesagt: &bdquo;Sie wissen doch, dass in Deutschland niemand auf der Straße schlafen muss.“ Ist eine solche Frage typisch für die abgehobene Politikerkaste oder doch eher die Ausnahme? Gute Frage: Ich glaube, viele Menschen, vor allem auch konservative Politiker, halten nach wie vor noch an dem Narrativ fest, dass Obdachlosigkeit ein individuelles, quasi selbst verschuldetes Problem ist. Doch nicht alle Politiker denken so. Im Dezember saß ich neben der damaligen Bundestagspräsidentin Bärbel Bas von der SPD in einer Talkshow, die in der Sendung ein Plädoyer für Menschen ohne Obdach gehalten hat. Sie ist jemand, der eine völlig andere Einstellung zum Thema hat als Frau Klöckner. Sie beschreiben in Ihrem Buch eindrücklich, dass Wohnungslosigkeit fast jeden Normalverdienenden treffen kann. Ist das wirklich in der Politik angekommen? Das ist die Frage. Aber ich glaube schon, dass der Politik ist im Großen und Ganzen schon bewusst ist, dass Wohnungslosigkeit mittlerweile auch Menschen in der Mittelschicht treffen kann. Zurzeit haben wir rund 530.000 Menschen ohne Obdach in Deutschland. Lesen Sie auch: Gütersloher Großfamilie droht die Obdachlosigkeit und damit weiterer Schicksalsschlag Für 2027 wird prognostiziert, dass die Zahl auf über eine Million steigt, weil viele Menschen etwa die steigenden Mietnebenkosten nicht mehr zahlen können. Mir fehlen in der Politik zwei Dinge: Zum einen eine Strategie, wie die Wohnkrise in den Griff zu kriegen ist. Dabei gibt es ganz viele Möglichkeiten. Zweitens fehlt es am Willen und den Mut, diese großen Projekte auch anzugehen. Durch meine eigene Geschichte glaube ich aber, dass es durchaus möglich ist, dass es für meine Leute noch besser wird. Und was dürfen wir in Zukunft vom Schriftsteller Dominik Bloh erwarten? Ist schon ein neues Buch in Arbeit? Ja, das erzählt eine fiktive Geschichte und lehnt sich etwas an Dostojewskis &bdquo;Der Spieler“ an. Mit dem Roman, so hoffe ich, werde ich dann endlich auch in der Literaturwelt Fuß fassen.

Meistgelesen