Führungskrise im Gütersloher Rathaus hat fatale Folgen

In Deutschland ist jeder Fünfte von Armut betroffen. Diese Nachricht ging vor wenigen Tagen durch die bundesweite Presselandschaft und ist noch ganz frisch. Susanne Kohlmeyer: Nein, neu ist die Nachricht ganz sicher nicht. Sie ist nur einmal mehr geschrieben worden. Es ist exakt die Zahl, die uns als Armutskonferenz im Kreis Gütersloh schon vor einigen Jahren aufgeschreckt hat. Sie haben sich mit den fast 30 beteiligten Einrichtungen und Institutionen der Armutskonferenz zum Austausch getroffen. Können Sie uns einen sozialen Lagebericht für Gütersloh geben? Volker Brüggenjürgen: Die Abfrage bei den Institutionen ist wie ein Förderband der Depression. Am Ende unserer Gütersloher Runde herrschte absolutes Schweigen. Wenn die Experten für soziale Fragen die Gesamtheit der Armutssituation darstellen, sorgt das tatsächlich für eine sehr bedrückende Atmosphäre. Welche Veränderung stellen Sie fest? Brüggenjürgen: Trotz vielleicht gleichbleibender statistischer Zahlen verändert sich gerade das soziale Miteinander. Das ist neu. Kinder, Senioren, Migranten sind seit jeher besonders gefährdet, unter ihrer Armut zu leiden. Aber es wird insgesamt härter, es wird rauer. Kohlmeyer: Wenn es der Gesellschaft oder der Wirtschaft in früheren Jahren schlecht ging, ging es uns Sozialeinrichtungen gut. Wir waren es, die es reparieren sollten und auch konnten. Wir waren finanziell vernünftig ausgestattet. Jetzt geht es der Gesellschaft schlecht, es geht der Wirtschaft schlecht – aber den sozialen Trägern geht es auch schlecht, weil die Finanzierung nicht mehr stimmt. Brüggenjürgen: Es macht mich betroffen wenn ich höre, dass die Gütersloher Tafel mehr als 1.000 Menschen zusätzlich in die Essensverteilung aufgenommen hat. Das sind alarmierende Zahlen. Sie waren im vergangenen Jahr stolz auf Ihren Durchbruch in Politik und Verwaltung. Nach langem Ringen ist es Ihnen gelungen, dass die Stadt Gütersloh mit einer systematischen Armutsberichterstattung beginnt. Ein Meilenstein. Ist der Erfolg verpufft? Kohlmeyer: Die Fortschreibung des Armutsberichtes wird im Sommer erfolgen. Aber ein betroffener Blick von Politik und Verwaltung wird dann nicht mehr reichen, da muss ein bisschen mehr kommen. In der Vergangenheit wurde uns sozialen Trägern gerne ins Stammbuch geschrieben, dass wir unsere Mittel vernünftig einsetzen und uns besser vernetzen sollen. Solche klugen Ratschläge brauchen wir nicht. Brüggenjürgen: Wir hoffen, dass wir Bestehendes über die Zeit bringen. Aber das alleine reicht nicht aus, um den Veränderungen in der Gesellschaft entsprechend zu begegnen. Wir brauchen die Anstrengung der gesamten Stadtgesellschaft, um neue Projekte anzuschieben. Tatsächlich ist aber wohl nicht zu erwarten, dass eine Verwaltung in der jetzigen Situation innovative Schritte gehen kann. Weil Geld fehlt, oder weil der Bürgermeister fehlt? Brüggenjürgen: Beides. Wir habe eine Führungskrise im Rathaus, die größere Veränderungen möglicherweise blockiert. Und wir haben eine Finanzkrise, die dazu führt, dass wir einen realen Sozialabbau haben. Dagegen steuert keiner mehr an. In welchem Bereich ist die Problemlage gerade besonders prekär? Brüggenjürgen: Es gibt eine deutliche Verschärfung auf dem Wohnungsmarkt, Institutionen wie die Wohnungslosenhilfe schlagen Alarm. Es rutschen sehr viele Menschen neu in die Wohnungsarmut hinein. Müssen wir in Gütersloh demnächst mit mehr Obdachlosen rechnen? Kohlmeyer: Ja. Wir haben jetzt schon viel zu viele. Couch-Surfen ist bereits heute eine beliebte aber verdeckte Form der Wohnungslosigkeit, die wir kaum nachhalten können. Obdachlosigkeit wird in der Mitte der Gesellschaft an-kommen. Es gibt zu wenige Wohnungen, die Kommunen haben zu wenig Geld für alle möglichen Sozialleistungen. Gibt es beim Thema Armut trotzdem etwas, mit dem man gegensteuern kann? Brüggenjürgen: Die eigentliche Konsequenz von Armut ist, dass man ausgegrenzt und an den Rand gedrängt wird. Man vereinsamt, weil man sich gewisse Dinge nicht mehr leisten kann, die zu einem normalen Leben dazugehören. Wir glauben, dass es Begegnungsorte in Gütersloh braucht, wo man hingehen kann, unabhängig davon ob man Geld hat oder nicht. Orte, wo ein soziales Miteinander mitten in der Stadt möglich ist. Diesen Ort gibt es in Gütersloh nicht. Kohlmeyer: Es gibt in Gütersloh durchaus einige Formate die kostenfrei sind, wie zum Beispiel &bdquo;Freitag 18“ oder &bdquo;Die Woche der kleinen Künste“. Dort sehe ich aber wenige Menschen, die ich ansonsten in anderen beruflichen Kontexten sehe. Ich bin deshalb der Meinung, dass wir Orte der Begegnung begleiten müssen. Sie funktionieren nicht von alleine. Wenn man lange von Teilhabe ausgegrenzt war oder sich ausgrenzen musste, traut man sich irgendwann nicht mehr raus. Brüggenjürgen: Wir sehen bei der Vesperkirche, dass die offene Begegnung und der Austausch durchaus möglich sind. Brauchen wir in Gütersloh eine Vesperkirche als Dauereinrichtung? Kohlmeyer: Eine Vesperkirche als Dauereinrichtung ist logistisch und finanziell ein Wahnsinnsaufwand. Punktuell solche Orte zu schaffen und daran zu erinnern, wie Begegnung geht, ist immer wieder ein Highlight. Aber um es zu routinieren, könnte besser ein Quartiersmanagement als kleinere Variante stattfinden. Brüggenjürgen: Das Netzwerk der Armutskonferenz setzt auf die Idee der Stadtteilbüros. Begegnungsangebote mit Beratung, Kultur und Teilhabe, das wäre ein großer Schritt, um Menschen aus der Vereinsamung herauszuholen. Diese Stadt braucht ein solidarisches Miteinander wenn sie nicht in einzelne Schichten zerfallen möchte. Weil die Problemlage gerade so groß ist, brechen uns aber die Ansprechpartner für soziale Fragen weg. Das heißt, den Sozialeinrichtungen geht die Puste aus, um zu helfen? Kohlmeyer: Ja. Wir sollen Wurzeln geben, wir sollen stärken, wir treten ein für die soziale Gemeinschaft hier in Gütersloh. Das ist dem Netzwerk der Armutskonferenz eine Herzensangelegenheit! Wir alle sind aber selber existenziell verunsichert durch Kriege, durch Energiekrise und vieles mehr. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Jeder ist angefasst, das merkt man. Die Zündschnur ist kürzer, das Nervenkostüm ist nicht mehr so robust. Gleichwohl haben wir als soziale Einrichtung den Auftrag zu funktionieren und die Menschen weiter zu stärken. Dieser Balanceakt wird immer anstrengender. Es kommen Geldsorgen dazu, denn unsere Personalkosten steigen. Höhere Löhne sind sinnvoll, aber wir müssen es gegenfinanzieren. Bei einer sich verschärfenden Problemlage gibt es also weniger finanzielle Kraft, weniger eigene Kraft. Das darf nicht dazu führen, dass das System erodiert. Wir müssen jetzt handeln. Wir brauchen Unterstützung. Und damit meine ich nicht, dass man uns nur Geld zur Verfügung stellt. Wir brauchen den gesellschaftlichen Zusammenhalt für den wir selber einstehen und kämpfen. Ein Schlüssel dabei ist die Stadtverwaltung. Welche Unterstützung erfahren Sie aus dem Gütersloher Rathaus? Brüggenjürgen: Es gibt ein kommunales Interesse, unsere Sichtweise kennenzulernen und mit uns in die Debatte zu kommen. Aber die eigentliche Frage ist doch, ob die Stadt noch in der Lage ist, Projektideen personell oder finanziell in irgendeiner Weise zu unterstützen. Das wird zunehmend fraglich. Die Bürgermeisterfrage, die Finanzlage und die bevorstehende Kommunalwahl tragen nicht dazu bei, das man jetzt größere soziale Investitionen anschiebt. Wir stecken in einer Phase des Blockierens, des Verharrens in das Bestehende. Der Stadthaushalt 2024 ist immer noch nicht verabschiedet und die Finanzlage ist bekanntlich schwierig. Wissen Sie schon, ob Ihnen Leistungen gestrichen werden? Kohlmeyer: Nein, für 2024 – sollte der Haushalt überhaupt verabschiedet werden – wissen wir es nicht. Ich befürchte, dass es für den Haushalt 2025 noch einmal richtig schlimm wird, da die Konsolidierungsrunden weiterlaufen. Die Aufgabenkritik lag jetzt eher bei den größeren Finanzpositionen. Die vermeintlich kleinen Positionen standen explizit noch nicht auf dem Prüfstand. Das kommt jetzt erst noch und dann wird es für einige soziale Einrichtungen vermutlich existenziell. Brüggenjürgen: Die Migrationsberatung steht bereits auf der Kippe. Wir haben bereits eine lange Debatte geführt, aber die weitere Zukunft ist dennoch völlig unklar. Daran kann man erkennen, was uns bevorsteht. Alle Leistungen, die nicht unbedingt gesetzlich vorgeschrieben sind, sind in Gefahr. Mit Spendengeldern alleine wird sich das Loch nicht stopfen lassen, oder? Kohlmeyer: Ich plädiere dafür, jetzt mehr Geld für die Kindergrundsicherung in die Hand zu nehmen. Wir könnten langfristig Kinderarmut bis 2050 um 6,8 Prozentpunkte reduzieren. Wir steigern nachweislich die Bildungschancen. Beim gedanklichen Return-On-Invest scheinen wir gesellschaftspolitisch überhaupt noch nicht angekommen zu sein. Das fehlt mir im Bereich des Sozialen. Brüggenjürgen: Armutsprävention ist keine freiwillige Leistung einer Kommune. Wir brauchen strukturelle Veränderungen in unserem Sozialstaat. Gütersloh hatte immer das Image einer wohlhabenden Stadt. Hat uns die Wirklichkeit überholt? Kohlmeyer: Jeder, der sich anschaut, was hier gerade gesamtstädtisch passiert, wird erkennen müssen, dass das Image nicht mehr passt. Es gibt diejenigen, denen es gut geht, die treten in Erscheinung. Diejenigen, denen es nicht gut geht, die sich aber durchweg nicht als arm formulieren, haben nicht teil, treten nicht in Erscheinung, also sehen wir sie nicht. Brüggenjürgen: Vielleicht ist es der Verdienst der Armutskonferenz, sichtbar zu machen, dass es Armut in Gütersloh überhaupt gibt. Die hat es zwar immer schon gegeben, aber aufgrund dieses Image wollte man da nicht so genau hinschauen. Ich glaube, Gütersloh ist immer noch eine reiche Stadt. Es ist an der Zeit, den wohlhabenden Menschen ein Angebot zu machen, wie man sich sozial mit gutem Gewissen organisieren kann. Hat es sich die Stadt in all den Jahren recht bequem gemacht und das Thema Armutsbekämpfung delegiert an private Einrichtungen wie etwa die Suppenküche oder die Kirchen, die inzwischen selber in finanziellen Schwierigkeiten sind? Brüggenjürgen: Ja. Sie haben von schleichendem Sozialabbau in den Sozialeinrichtungen gesprochen. Können Sie den benennen? Brüggenjürgen: Es sind halt nicht die großen Einrichtungen, die plötzlich schließen. Das würden wir merken. Der Abbau verbirgt sich eher hinter Begriffen wie Fachkräftemangel, wodurch zum Beispiel eine Kita-Gruppe geschlossen wird oder die Betreuung von 40 auf 35 Stunden reduziert wird. In der Offenen Seniorenarbeit fällt das Begegnungsangebot weg oder es gibt kein Geld mehr für eine ausreichende Qualifizierung. Die Liste ist lang. Das alles ist ein faktischer Sozialabbau. Es merkt nur keiner. Kohlmeyer: Die meisten sozialen Einrichtungen verwalten mehr als dass sie ge-stalten können. Das frustriert. Natürlich ist die Schließung einer örtlichen Kontaktstelle im Nachrichtenranking gerade nicht unser Hauptthema bei all den weltweiten Krisen die uns umgeben. Wenn wir sozialen Träger in der Stadt jedoch einmal zusammentragen würden, wie viele Angebote und Einrichtungen in den vergangenen drei Jahren weg-gefallen sind, dann gebe es garantiert einen Wow-Effekt. Die Soziallandschaft schnurrt zusammen. Hat die Armutskonferenz noch Energie-Reserven, oder stehen Sie vor einem Aus? Brüggenjürgen: Wir werden den Kopf nicht in den Sand stecken. Das passt nicht zu uns. Wir sind stolz darauf, dass wir mit einer so heterogenen Gruppe schon so viel geschafft haben. In diesem Netzwerk gibt es viel Know-how mit engagierten und hartnäckigen Akteuren. Wir werden ein kleines Leuchtturmprojekt initiieren. Zum Stadtjubiläum in 2025 wird es ein Fest der Begegnung geben mit einem Markt der Möglichkeiten. Kohlmeyer: Wenn das gut läuft, dann verstetigen wir das. Und es wird gut laufen!

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