Junge Gütersloherin überlebt dramatische Flucht mit Schlauchboot

Ghazal, Du warst damals sieben Jahre alt, als du 2015 mit der großen Flüchtlingswelle nach Deutschland und später nach Gütersloh gekommen bist. Kannst Du Dich an die Ankunft erinnern? GHAZAL ALNAJJAR: Ja. Gütersloh war eigentlich ein Zufall, denn wir wurden an der deutschen Grenze in Busse geschickt und für diese Stadt eingeteilt. Das konnten wir uns nicht aussuchen. Die erste Zeit haben wir in einer Turnhalle in Gütersloh geschlafen. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir dort waren, vielleicht zwei Monate, bis wir in unsere erste Wohnung ziehen durften. Hast du Erinnerungen an die Flucht? Von Syrien aus sind wir in die Türkei gefahren. Wir waren mit dem Bus unterwegs aber die meiste Zeit zu Fuß. Unsere Flucht aus Syrien war illegal, deshalb haben wir uns durch die Wälder fortbewegt, damit wir nicht entdeckt werden. Du hast in der syrischen Stadt Aleppo gelebt. Hast Du Erinnerungen an den Krieg? Ich bin 2008 geboren, 2011 hat der Krieg angefangen, da war ich drei Jahre alt. Ich kann mich nur noch an ein Syrien erinnern, in dem es Krieg gibt. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Morgen, als ich aufgewacht bin, weil eine Bombe unsere Wohnungsfenster zerstört hatte. Es flog überall Glas umher, meine Schwester und ich wurden in ein Krankenhaus gebracht. Deine Schwester ist drei Jahre älter. Haben Eure Eltern die Flucht mit Euch Kindern besprochen? Wusstest Du, dass Du Deine Heimat verlassen musst? Für meine Eltern stand fest, dass wir das Land verlassen. Gefühlt hatten wir dort gar keine Zukunft. Aber sie wollten es trotzdem mit uns besprechen. Ich kann mich daran erinnern, dass ich gar nicht weggehen wollte. Wirklich gar nicht. Aber wir haben uns von allen verabschiedet und sind mit meiner Oma und meinen beiden Onkeln aufgebrochen. Musstest Du etwas zurücklassen? Meine beiden besten Freundinnen. Wir haben zwar immer noch Kontakt, aber wir sehen uns natürlich nicht mehr. Und ich hatte ein Lieblingsspielzeug, eine Puppe, die ich auf der Flucht im Wald zurücklassen musste, weil kein Platz mehr im Koffer war. Wir sind insgesamt vier Monate in der Türkei geblieben, bis wir genügend Geld hatten, um die Flucht fortzusetzen. Dann ging es mit einem Schlauchboot weiter über das Meer, um nach Griechenland zu gelangen. Es waren mehr als 50 Leute im Boot. Müssen wir uns das so vorstellen, wie wir das in den Nachrichten sehen: überfüllte Boote, die mit zu vielen Menschen an Bord eine lebensgefährliche Tour machen? Genau so. Uns ist zum Glück nichts passiert, niemand ist ertrunken, aber nach uns und vor uns. Es waren Boote, die genau den gleichen Weg hatten. Was in den Nachrichten gezeigt wird, ist exakt das, was ich erlebt habe. Kannst Du Dich an die Überfahrt konkret erinnern? Ich kann mich an die Angst erinnern, jeder hat gebetet und gehofft, dass kein Unglück passiert. Als wir angekommen sind, waren alle sehr fröhlich und glücklich. Es hat aber noch lange gedauert, bis wir in Deutschland waren. Es waren viele Länder, die wir durchqueren mussten, ehrlich gesagt, weiß ich nicht mehr alle Länder. Wir haben in Zelten geschlafen, sind Ewigkeiten auf den Straßen zu Fuß gelaufen. Wie geht es Dir heute, wenn Du in den Nachrichten Bilder siehst von Flüchtlingen, die von üblen Schleppern in viel zu vollen Booten aufs Meer geschickt werden und nicht selten dort ertrinken? Immer wenn ich solche Bilder sehe, bedanke ich mich bei Gott, dass ich das nicht erlebt habe. Mir tun diese Menschen unendlich leid. Dieser Gedanke, dass wir damals mit über 50 Leuten in ein Schlauchboot gestiegen sind, ist schon schlimm. Hast Du Deinen Eltern später Vorwürfe gemacht, dass Sie mit Euch kleinen Kindern in solch gefährliche Situationen gegangen sind? Vorwürfe nicht, aber es ist eine unbeantwortete Frage in meinem Kopf: Wie konnten sie überhaupt mit ihren Kindern so einen Weg gehen? Ich kann mich an die türkische Polizei erinnern, die schwer bewaffnet war und ständig geschossen hat. Als Mutter hätte ich wahnsinnige Angst um meine Kinder. Ich finde meine Eltern waren mit ihrer Entscheidung ganz stark und haben uns Kinder vor lebensgefährlichen Situationen in Syrien geschützt und auch eine deutlich bessere Zukunft ermöglicht. Wie findest du Gütersloh? Ich finde es eigentlich ganz toll. Ich bin kein Mensch, der in einem richtigen Dorf leben könnte, aber auch nicht in einer riesigen Stadt. Ich würde mich dort einfach nur verlieren. Deswegen bin ich dankbar, dass wir in Gütersloh gelandet sind. Ich habe mich seit acht Jahren an diese Stadt gewöhnt und kenne mich inzwischen gut aus. Wie geht es deinen Eltern hier? Auch ganz gut, aber sie wünschen sich eher eine große Stadt. Sie kommen aus Aleppo, das ist eine sehr große Stadt mit vielen Sehenswürdigkeiten. Ich kann mich kaum daran erinnern, aber es muss eine tolle Stadt gewesen sein. Meine Eltern haben überlegt, dass wir in eine größere Stadt umziehen, sobald meine Schwester ihr Abitur gemacht hat. Das wäre nächstes Jahr. Ich lehne das aber komplett ab. Ich will das nicht. Ich möchte gerne hier bleiben. Was bedeutet der Begriff Heimat für Dich? Eigentlich nichts außer Krieg. Es fühlt sich so an, als hätte ich gar keine Heimat. Syrien ist das zwar, weil ich dort geboren bin, aber ich kann mich ja kaum daran erinnern. Ich war dort nicht einmal in einem Kindergarten, weil die wegen des Krieges alle geschlossen waren. Deutschland kann ich nicht meine Heimat nennen, hier bin ich eine Ausländerin. Was müsste sich ändern, um Deutschland als Heimat empfinden zu können? Zumindest müssten die rassistischen Anfeindungen aufhören, die ich erlebe. Sie lassen mich immer wieder fühlen, dass ich nicht hier geboren wurde oder dass ich nicht hierher gehöre. Was sind das für Situationen? Es ist nicht leicht zu erklären, denn es sind vor allem die Blicke der anderen, die mir begegnen. Wenn ich einen kleinen Fehler mache, wird daraus oft ein großer Fehler, weil ich eine Kopftuchträgerin bin, oder generell eine Ausländerin. Meine Eltern werden beschimpft, meine Mutter wurde bei einer Bewerbung nicht genommen, weil sie ein Kopftuch trägt. Einmal war ich mit ihr gemeinsam in der Stadt und ein älterer Herr hat sich lustig über unsere Kleidung gemacht. Es ist schwer, beim Jobcenter und an vielen anderen Stellen im Alltag eine gute Behandlung zu erfahren. Am Freitag vor den Herbstferien waren wir mit der Klasse im Kletterpark. Ich habe eine Verletzung am Fuß und konnte deshalb nicht mitklettern. Die Mitarbeiter des Parks hatten das Gefühl, dass ich nicht mitmache, weil ich ein Kopftuch trage und deshalb keinen Sport mache. Ich kenne diese Blicke und weiß genau, was sie denken. Aber was soll ich dann sagen? Hörst Du denn oft das Lob beziehungsweise den Spruch, dass Du gut Deutsch sprichst? Schon Tausendmal. Das habe ich schon gehört, als ich in Deutschland angekommen bin und kaum einen Satz sprechen konnte. Ehrlich gesagt kann ich das gar nicht mehr richtig ernst nehmen. Bist Du genervt von der Frage nach Deiner Herkunft? Ich beantworte diese Frage gerne, aber viele fragen, ob ich aus Arabien komme. Dieses Land gibt es nicht. Andere fragen, ob ich aus dem Islam komme. Oder Islamisch spreche. Es gibt schon wirklich viele merkwürdige Fragen, die mir gestellt werden. Die häufigste Frage die ich in Gütersloh von Deutschen aber auch von Arabern gestellt bekomme ist, warum ich nicht aufs Städtische Gymnasium gegangen bin, weil die Schule voll mit Ausländern ist. Stattdessen bin ich auf dem Evangelisch Stiftischen Gymnasium also auf einer christlichen Schule. Das finden augenscheinlich viele Menschen befremdlich. Ich bin irgendwie zwischen all diesen Welten in der Mitte. Ja, ich gehe auf eine christliche Schule, weil ich dort sehr respektvoll behandelt werde und weil ich kein Problem mit dem christlich sein habe. Ich fühle mich auf dem ESG richtig wohl. Bist Du durch das Misstrauen, das Dir begegnet, mutiger geworden, oder macht es Dich schüchtern? Insgesamt hat es mich mutiger gemacht. Es gibt immer zwei Möglichkeiten: Ablehnung oder Akzeptanz. Oft kann ich es den Menschen schon ansehen, wie sie reagieren werden. Und dann weiß ich immer schon, wie es weiter geht. Ich bin allerdings nicht mutiger mit Worten geworden, um mich zu verteidigen. Wissen die Deutschen genug über den Krieg in Syrien? Nein, die meisten, die ich getroffen habe, nicht. Sie wissen weder etwas über den Krieg noch über Syrien selbst. Vielleicht sogar generell über alles Ausländische. Sprecht ihr in der Familie über all diese Probleme, oder versucht jeder selbst damit klarzukommen? Wir sprechen sehr oft darüber. Meine Eltern versuchen uns Kindern zu helfen, wo immer sie können. Dein Bruder ist vier Jahre alt und in Deutschland geboren. Wird er es einfacher haben, hier zu leben? Defintiv ja. Er lernt von Anfang an die deutsche Sprache, das wird ihm helfen. Allerdings wirft er Deutsch und Arabisch gerade ganz schön durcheinander (lacht). Welche Sprache sprecht ihr in der Familie? Gemischt. Die Hauptsprache ist Arabisch, aber ich spreche mit meiner Schwester sehr oft Deutsch. Und ich fange auch ehrlich gesagt gerade an, ein paar Begriffe auf Arabisch zu vergessen. Das ist schade, aber ich kann nichts dafür. Du sprichst fünf Sprachen. Neben Deutsch und Arabisch kommen Englisch, Spanisch und Französisch dazu. Das ist weit mehr, als jeder andere schafft. Deine Schulnoten sind super. Hast Du manchmal das Gefühl, besser sein zu müssen, weil Du Dich durch Leistung beweisen musst? Ja. Ich hatte eine schwere Zeit in der Grundschule. Meine Lehrerin war wirklich richtig rassistisch. Ich wurde oft ausgeschlossen. Ihre Empfehlung lautete schließlich, dass ich zur Hauptschule gehen soll. Aber meine Mutter wollte, dass sich mein Traum erfüllt und sie wusste ganz genau, dass ich eine fleißige Schülerin bin. Ich hatte überall gute Noten – außer in Deutsch, wo ich von genau dieser genannten Lehrerin unterrichtet wurde. Jetzt finde ich zwar, dass ich mich ganz gut entwickelt habe, aber ich habe immer das Gefühl, noch besser werden zu müssen. Ich wünsche mir, die Beste zu sein. Ob ich das kann, weiß ich nicht. Was ist Dein Ziel? Schon als kleines Mädchen wollte ich immer Ärztin werden. Ob ich das wirklich umsetze weiß ich aber noch nicht. Sprachen machen mir tatsächlich mehr Spaß als Biologie und ich interessiere mich für Journalismus. Du hast einen Antrag auf Einbürgerung gestellt. Wird der genehmigt? Ja, er wurde für mich und meine Schwester genehmigt. In zwei Monaten bekomme ich die deutsche Staatsbürgerschaft, meine syrische konnte ich aber behalten. Könntest Du dann in Syrien ein- und ausreisen? Eigentlich schon, aber wir sind illegal ausgereist und ich würde mich nicht trauen, dort hinzureisen. Meine Eltern dürften es ohnehin nicht. Sprechen Deine Eltern über Heimweh? Sehr oft sogar. Ich habe auch Mitleid mit ihnen, denn ich glaube, wenn wir Kinder nicht wären, wären sie in ihrer Heimat geblieben. Meine Eltern haben ihre gute Arbeit in Syrien verloren, ihr guter Schulabschluss wird hier nicht anerkannt, während meine Schwester und ich am Gymnasium unsere Ziele verwirklichen können. Das tut mir leid und ich empfinde darüber Schuldgefühle. Sie haben alles für uns aufgegeben. Ich habe mich an Deutschland gewöhnt, meine Eltern nicht, auch wenn es hier natürlich viel sicherer ist als in Syrien. Besonders der Gedanke, dass man vermutlich nie mehr in die Heimat zurück kann, tut ihnen weh. Vermutlich würden sie dorthin zurückkehren wollen, sollte jemals Frieden geschlossen werden. Aber ich kann mir ein Leben in Syrien nicht vorstellen. Ich bin nicht bereit, schon wieder ein Land zu verlassen. Hat Deine Familie viel Kontakt zu anderen syrischen Familien in Gütersloh? Generell zu arabischen Familien. Wir haben viel Kontakt. Triffst Du Dich lieber mit arabisch sprechenden Jugendlichen? Früher war es einfacher für mich, heute nicht mehr. Meine besten Freundinnen kommen aus türkischen Familien, sie sind auch muslimisch. Das habe ich mir nicht bewusst so ausgesucht, aber wir verstehen uns einfach gut. Meine Familie würde mich und meine Schwester niemals zwingen, ein Kopftuch zu tragen Wie alt warst Du, als Du entschieden hast, ein Kopftuch zu tragen? Ich war zwölf Jahre alt und bin in die sechste Klasse gegangen. Ich war noch nicht einmal dazu verpflichtet, aber ich wollte es irgendwie. Vor den Herbstferien habe ich meiner ganzen Klasse Bescheid gesagt, dass ich nach den Ferien ein Kopftuch tragen werde. Und dann bin ich einfach damit zur Schule gekommen. Meine Eltern haben sogar dazu geraten, damit noch zu warten. Aber ich wollte es. Was würde passieren, wenn Du Dich komplett dagegen aussprechen würdest und das Kopftuch nicht tragen würdest? Meine Familie würde das, glaube ich, akzeptieren. Sie würden sicherlich versuchen, mich zu überzeugen, aber sie würden mich auf gar keinen Fall dazu zwingen. Mein Vater hat mir schon häufiger gesagt, dass ich das Kopftuch nicht mehr tragen muss, wenn ich es jetzt nicht mehr will. Ich fühle mich aber wohl mit Kopftuch. Ich habe gelernt, wie ich damit umgehe. Wählst du die Farbe des Tuchs passend zu Deiner Kleidung. Ja, immer. Ich trage allerdings nie ein komplett schwarzes Outfit. Meine Mutter hat die Sorge, dass andere Leute schlecht von mir denken. Sie hat Angst, dass ich aussehe wie eine Terroristin (lacht). Wenn Du träumst, in welcher Sprache geschieht das? In beiden Sprachen. Etwa vor einem Jahr habe ich zum ersten Mal in Deutsch geträumt.

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